Schrebergärten Ost, Schrebergärten West

■ Neue Heimatkunde in Büchern von Monika Maron und Kerstin Hensel

Schriftsteller im Zugzwang: Sagt ihr doch auch mal was, irgendwas zur Moral, zu den Werten und gegen den Verfall der Sitten im Lande. Ein Vorbild für unsere geistige Elite existiert bereits – Monika Maron. Nicht nur, daß sie für jedes neue Nachwendeübel der fünf neuen Länder eine Polemik zu verfassen imstande war und als erste stellvertretend für das befreite Volk auf die Intellektuellen schimpfte, die beim Anblick des DDR-Volks an den Wühltischen die Nase rümpften (1990). Vorbildhaft war auch, wie sie sich schon kurz darauf heftig über die Memoirenflut abgehalfterter Bonzen („Fettaugen auf der Brühe“, 1991) empörte und uns schließlich 1992 damit erfreute, daß sie auf die Jammerkrankheit der Ostdeutschen postwendend mit einem schillernden Text reagierte („Zonophobie“). Die diesjährige Polemik steht zwar noch aus, aber zum Trost ist schon mal ein ganzes Buch voller Artikel und Essays erschienen, die Hilfe gegen das derzeitige geistige Vakuum versprechen.

Die Wunde, in die es diesmal den Finger zu legen gilt, ist riesengroß. Das Problem heißt Deutschland, und es hat etwas länger gedauert, bis Tante Doktor Maron gerufen wurde. Deutschland sei ihr „erst allmählich als Problem angetragen worden“, berichtet sie gleich im ersten Absatz ihres Sammelbandes. Dieser trägt den Titel „Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft“, und Monika Maron blickt schwermütig vom Cover: „Spreche ich wirklich von Deutschland, wenn ich von Deutschland spreche?“ fragt sie sich. Je kniffliger die Frage, desto größer der Bedarf an Begreifungskraft und anderen Erkenntnismitteln. Monika Maron begab sich daher auf Exkursion zu den Stätten ihrer Kindheit, die praktischerweise auf Ost- und Westberlin verteilt sind. So hat sie auf ihrem Streifzug auf der einen Seite Opfer, Dissidenten, Mitläufer zweier Diktaturen gefunden und auf der anderen die Vergleichssubjekte mit demokratischer Erfahrung. Das Fazit der Recherchen ist leicht zu merken: „Wer die Schrebergärten seitlich der S-Bahn-Böschungen in Ost und West miteinander vergleicht, wirft einen Blick in die gesamtdeutsche Seele, der jede politische Geographie vergessen läßt“: Deutschland sehen, plaudern, begreifen. Die Rezensentin empfiehlt den geneigten Lesern ohne Gartenparzelle, nach der Lektüre wenigstens mit der Gießkanne am Fensterbrett zu wirken, um das Schreberseelenprinzip am eigenen Leibe zu erfahren.

Schwerer als die allgemeine deutsche Natur ist schon eine besondere (internationale) Spezies zu verstehen, nämlich die der Kommunisten und Antifaschisten: „Warum sie mittaten in einer Wirklichkeit, die mit ihrem Ideal nur den Namen gemeinsam hatte, erscheint mir, je länger ich darüber nachdenke, als eine Frage nach der menschlichen Natur schlechthin und somit als unbeantwortbar.“ Woraus folgt, daß wir uns nach dem Blumengießen erst einmal mit verklärtem Auge in die gesamtdeutschen Kissen zurücklehnen und ein wenig vor uns hinseufzen.

Sagt ihr doch auch mal was, und möglichst wichtig muß es klingen: Monika Maron erfüllt die historisch gewachsene Ratgeber- und Besinnungspflicht der Schriftsteller, ohne zu murren, und schiebt den wissensdurstigen Lesern als Zugabe Episoden über den Autorinnenalltag unter, weil ihr Publikum auf Lesungen darüber immer etwas wissen will: Maron gibt unverbindliche Antworten auf blöde Fragen; vielleicht ist das ja so eine Art Rache.

Kerstin Hensel dagegen will sich nicht zur Instanz erheben lassen und beschwert sich lieber: „Das wenigste, was die Leute von dir verlangen, sind deine Texte.“ Aber dem Trend zur literarischen Resteverwertung folgt sie doch und hat zu diesem Zweck „Angestaut – aus meinem Sudelbuch“ veröffentlicht. Sudelbuch? „Auch nennt man so überhaupt ein Buch, in welches man nachlässig und ohne auf Reinlichkeit zu halten schreibt“, sagt Campes „Deutsches Wörterbuch“ von 1810. Der Titel ist mit Bedacht gewählt – Kerstin Hensel verspricht gar nichts und bietet Rezensionen, wahre Begebenheiten („Berliner Abende“) und Aufsätze feil. Dazu Gedichte zur Standortbestimmung: „Wo bin ich? Schrebers Enkelin,/ Vom strammen Pfad – juchhei! – wo/ Abgekommen?“ Nicht irgendwo in Italien jedenfalls, wie jenes Gedicht („Vigonis Garten“) nahelegt, sondern exakt unter den Sudelbuchkapitelüberschriften „Großtäuschland voran“ und „Was soll ich noch,/ was weiß ich denn?“. Hensel verirrt sich genau dann, wenn sie dem vermaledeiten Publikumswunsch nach Statements zu Vaterland und Schriftstellerleben nachgibt. Da hat alle fröhliche Sudelei ein Ende, und es wird plötzlich so wichtig-ernst wie für Schulanfänger beim Fototermin: „Als es noch eine DDR gab, konnte – unter vielen tumben und schwer zu überwindenden Widerständen – geschaffen werden“, stellt Hensel fest. Damals besaß die Dichterin drei Kellerwohnungen, ein Kleinkind, Ratten, wenig Geld und viele Freunde. Aber ach, statt der vertrauten Enge walten heute „in großen Weiten die Geschmäcker. Den Geschmack (der das Geld gibt oder nicht) bestimmt die Mode. Mode ist Zensur. Was wir heute schaffen werden, ist unbestimmt und fällt leichter durchs Raster.“ So grausam ist die Welt, auf der einem noch nicht mal ein stickiges Land erhalten bleiben kann, in dem man als Schriftstellerin so bequem (ohne Zensuren?) im Keller leben konnte.

Nachtrag: Trotz widriger Umstände gibt es noch richtige neue Bücher; eins davon stammt von Kerstin Hensel. Kein gequält vorgetragenes Wort darin vom Schriftstellerberuf und der Härte des Lebens. „Im Schlauch“ ist eine echte DDR-Geschichte; und es wird einem übel, sobald man sich mit Hilfe des Textes zu erinnern beginnt, wie das alles war. Die Chiffren setzen das Ambiente: Rondo-Kaffee, Malimo-Stoff, Sprelacard-beschichtete Möbel. Da ist sie, die gute alte Welt – miefig, abenteuersüchtig, mit verschämter Liebeshungergeschichte und Kompromiß am Ende. „Im Schlauch“ erinnert an einen Defa- Film von der gewöhnlichen Sorte – in fahlen Farben, mit schwachem Plot, und Anflügen surrealer Ekligkeit: Siegfried Kulisch ist Genosse und Aktivist, seine Frau Anneros darf man sich getrost mit Kittelschürze aus Dederon, ausgefranster Dauerwelle und Klemme im Haar vorstellen. Vater treibt's nur im Dunkeln, Mutter will lieber bei Licht, und Tochter Natalie haut ab, sobald sie sechzehn ist. Zieht in eine Abbruchwohnung, landet des Abends in der Kneipe, bildet sich ein, sie sei Opposition, und marschiert dann doch wieder neben Vater zu irgendeiner staatlichen Demonstration in der kleinen Stadt Stinopel. Wobei „Stino“ DDR-deutsch ist und „stinknormal“ bedeutet. Hensels Geschichte ist ja sooo echt. So war das. Lauwarme Bröckelromantik. War das langweilig. Friederike Freier

Monika Maron: „Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft“, Fischer Verlag 1993, 28 DM

Kerstin Hensel: „Angestaut“, Mitteldeutscher Verlag 1993, 19,80 DM; „Im Schlauch“, Edition Suhrkamp 1993, 12 DM