: Istanbul im Schmiergeldsumpf
Über eine Milliarde Mark Schaden für die Staats- und Stadtkasse / Wasserbehörde und hohe Politiker der Sozialdemokraten verwickelt ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Alles fing mit einer Liebesgeschichte an. Der Chef der Istanbuler Wasser- und Kanalisationsbehörde, Ergun Göknel, ließ sich von seiner Ehefrau scheiden und heiratete flugs darauf eine 30 Jahre jüngere Frau. Doch das junge Paar Ergun und Feray Göknel kamen nicht dazu, ihre Flitterwochen zu genießen. Beide sind seit zwei Tagen in Haft und werden von Beamten des Finanzdezernats der Polizei vernommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Göknel wegen Unterschlagung von öffentlichen Mitteln. Er soll Beträge in Milliardenhöhe als Schmiergeld von Unternehmen einkassiert haben. Doch die Affaire Göknel ist kein einzelner Schmiergeldskandal, sondern „organisierter Raub“ – so die Tageszeitung Sabah. Spitzen von Politik und Wirtschaft hängen mit drin im Bestechungssumpf.
„Die Rache der verstoßenen Ehefrau“ titelten Boulevardblätter, als die Ex-Ehefrau von Göknel, Nurdan Erbug, in Interviews bekanntgab, daß Ergun Göknel ihr 800.000 US-Dollar zahlte, damit sie unverzüglich in die Scheidung einwilligt. „1989 war unser Vermögen gerade eine Wohnung, auf der eine Hypothek lastete“, teilte Erbug mit. Doch kurz nachdem Göknel Chef der Istanbuler Wasser- und Kanalisationsbehörde geworden war, zog der Reichtum ein. Die Umstände, wie Göknel die 800.000 US-Dollar besorgte, erinnern an Kriminalromane. Im Londoner Flughafen Heathrow übergab ein Verbindungsmann das Geld, nachdem Göknel die ausgemachte geheime Parole gesagt hatte. Der Koffer mit dem Bargeld wurde in die Türkei eingeflogen, das Geld gewechselt und auf das Konto der Ex-Frau transferiert. Die Finanzbehörde wußte von nichts. Doch nicht die offenkundige Steuerhinterziehung bereitete den Skandal vor, sondern die Frage nach der Quelle von Göknels Milliardenvermögen.
Die Istanbuler Wasser- und Kanalisationsbehörde, kurz ISKI, hat die Bilanz eines riesigen Konzerns und gehört zu den größten Investoren in der Türkei. Das gesamte Wassernetz in Istanbul, wo 45 Prozent der türkischen Industrie und 15 Prozent der Bevölkerung angesiedelt sind, wird erneuert. Kläranlagen sind im Bau oder ausgeschrieben. Für das Mammutprojekt hat die ISKI einen Investionsrahmen von 2.700 US-Dollar vorgesehen. Für die Weltbank war ISKI ein Musterunternehmen. In einem Vertrag gab die Weltbank 1992 für die Investitionsprojekte Kreditzusagen von 1.079 Millionen US-Dollar. Doch das Musterunternehmen war offensichtlich auch eine Goldgrube für Politiker und Konzerne.
Über 2.000 Firmen stehen im Verdacht, Schmiergelder gezahlt zu haben. Große Baukonzerne, wie Selman und Tolga Insaat oder Asia Brown Bowery, werden beschuldigt, Aufträge erhalten zu haben, indem sie den Chef der ISKI mit Geldpaketen bedachten. Es scheint so, daß nur eine Firma, die bestach, die Chance hatte, eine Ausschreibung zu gewinnen. Der Gutachter bei Ausschreibungen der ISKI, Cahit Deniz, beziffert den Verlust für die öffenliche Hand auf umgerechnet über eine Milliarde DM. Details, wie der Umstand, daß das Banker-Unternehmen Meryll Linch Night-Club- Rechnungen von Göknel beglich, fallen bei solchen Dimensionen nicht ins Gewicht.
Regelmäßig schoben auch Fabrikleiter Bestechungsgelder rüber, damit die Verschmutzung des Wassers, das in die Kanalisation eingeleitet wurde, entsprechend dem „Parameter für Industrieabwässer“ als gering eingestuft wurde. Schmiergelder kamen allemal billiger als die Strafen. Milliardenschulden von Firmen an die ISKI wurden gegen 25 Prozent „Kommission“ gelöscht.
Der in die Enge getriebene Göknel hat kurz vor seiner Festnahme Spitzenpolitiker in die Affaire hineingezogen. In einem Interview mit der Tageszeitung Sabah gestand er freimütig: „Unternehmer, die eine Ausschreibung der ISKI gewinnen wollten, waren gezwungen, der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) zu spenden.“ Die SHP, die der Regierungskoalition angehört und den Bürgermeister von Istanbul stellt, steckt von Kopf bis Fuß in der Affaire drin. Der Arbeitsminister Mehmet Mogultay wird beschuldigt, bei Göknel interveniert zu haben, damit „befreundete“ Baukonzerne Aufträge erhielten. Umgekehrt besorgte die ISKI großzügig die Parteifinanzierung der Sozialdemokraten.
Göknel beschuldigte außerdem den Bürgermeister von Istanbul, Nurettin Sözen, bei Aufträgen für den Bau der Istanbuler U-Bahn acht Millionen US-Dollar einkassiert zu haben. „Davon sind vier Millionen für den kommenden Wahlkampf gedacht.“ Der so Bezichtigte verlangte, daß sein einst bester Freund Göknel in eine Psychiatrie eingewiesen wird: „Dieser Mann ist krank.“ Daß über die ISKI Spenden an die Partei gingen, bestreitet Bürgermeister Sözen indes nicht und verteidigt das höchst abstrus: „Schließlich kassiert die Partei auch Spenden von Menschen, die nicht für die ISKI arbeiten.“
Die bisherigen Erkenntnisse scheinen nur die Spitze eines Schmiergeldberges zu sein. Der Dreck von als unbestechlich geltenden Politikern und geachteten Unternehmern kommt plötzlich zum Vorschein. Der türkische Finanzminister Ismet Atilla sprach von einer „großen Bande“.
Was als Liebesgeschichte begann, verkommt im Privatfernsehen zum lüsternen Voyeurismus: Bettgeschichten von Göknel, brasilianische Serien – aufgemacht als Nachrichtendokumentation. In einem Privatsender wird täglich häppchenweise Göknels Ex-Frau, Nurdan Erbug, präsentiert. „Fortsetzung morgen“ heißt es zum Schluß. Dagegen ist fraglich, ob das System, wo Politiker und Kapitalisten den kleinen Wasserkonsumenten betrügen, je an den Pranger gestellt wird.
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