: Auf nach Rimini!
Der Urlauberhochburg der fünfziger und sechziger Jahre laufen die Touristen weg. ■ Von Stefanie Risse
Niemand verläßt die italienische Adria an einem Sonntagmorgen im Juli oder August. Wer es versucht, kann leicht auf der Strecke bleiben: Die Straßen, die aus dem Landesinneren zur Küste führen, werden rigoros einbahnig benutzt, Gegenverkehr ist einfach nicht vorgesehen. Die letzten Kilometer steht aller Verkehr still. Früh schon prallt die Sonne auf die gleißende Straße, die heißen Autodächer und die cholerischen Gemüter herab. Wo um alles in der Welt sollen all diese Menschen ihren Platz am Wasser finden? Wann werden sie das lauwarme Naß erreicht haben, und wieviel „Ferienzeit“ wird ihnen bleiben, bis sie die abendliche Rückfahrt wieder antreten? Die Anwesenden, das sind die Tagesurlauber aus Bologna, Florenz, Perugia, Mailand. Kein deutsches Nummernschild reiht sich ein in die Schlange.
Seit der Algenpest vor zwei Jahren bleiben die Deutschen der Adria endgültig fern. Und so stehen unter der Woche Hunderte und Tausende von Hotels leer, füllen sich gerade mal im italienischen Ferienmonat August. Nicht genug, um zu überleben; eine Pension nach der anderen macht dicht.
Die Deutschen und ihre Adria, eine Geschichte für sich. Eine noch ungeschriebene Geschichte, bestehend aus ungezählten einzelnen Geschichten, Begegnungen, Erfahrungen, die Schicksale prägten. Die Städte und Gemeinden der Küste, von Ravenna bis Rimini, haben sich zusammengetan, um ihre jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Allzuschnell hat die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts den platten Küstenstreifen zum ersten Zentrum des europäischen Massentourismus werden lassen, hat sein Gesicht verändert, sein natürliches Gleichgewicht zerstört und seine spärliche Ökonomie, die auf Fischfang und Salzproduktion beruhte, zur heftigen Blüte gebracht. Jetzt, in der Phase des Niedergangs, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen, um zu retten, was zu retten ist. Erster Schritt: analysieren, wie alles gekommen ist. Und diesmal nicht mittels sozioökonomischer Statistiken, sondern durch genaues Zuhören. Individuelle Erzählungen, die das internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum von Bellaria Igea Marina sammelt, werden ausgewertet und prämiert.
Vor rund einem Monat fand auf der Piazza von Cervia die erste Preisverleihung des Europapreises MER statt: „Dire il mare, dire le gente.“ Aus vielen hundert Zusendungen, die „das Meer und die Leute“ beschreiben, hat eine internationale Kommission unter der Leitung von Prof. Vittorio Dini, Universität Siena, die besten ausgewählt. Zwei deutsche Texte wurden prämiert: Jutta Rüstigs „Es war einmal an der Adriaküste...“ und Hedi Roßwogs „Auf nach Rimini“. In der lauen Sommernacht wurden dramatische Passagen theatralisch in Szene gesetzt.
Viele Texte erinnern an Vergangenes, an Verlorengegangenes. So auch an die Schwierigkeiten der Wiederbegegnung zwischen Italienern und Deutschen nach dem Krieg, in dessen Verlauf aus den Verbündeten Feinde geworden waren. Mit dem Haß der Rache hatten deutsche Soldaten auch in der Emilia Romagna gewütet, Zivilisten getötet, Dörfer niedergebrannt. Und nur wenige Jahre nach Kriegsende waren die Deutschen zurückgekommen und forderten selbstverständliche Gastfreundschaft, die ihnen, so scheint es, bereitwillig gewährt wurde. Unter der Oberfläche jedoch, von den Feriengästen vielleicht unbemerkt, hat es hier und da gebrodelt: „In der Pension weckte mich jeden Morgen das Zimmermädchen, eine alte, sehr dicke Frau, die sich nur mit Mühe bückte. Sie atmete schwer und schwitzte immer. Manchmal half ich ihr, den Wagen mit der Wäsche in den Aufzug zu schieben. Neben mir war das Zimmer eines deutschen Paares, Eheleute um die fünfzig, die nicht Italienisch sprachen, nur grazie, buonasera und cappuccino, das heißt ,capucino‘ wie sie sagten. Signora Maria, die die Zimmer machte, war freundlich mit allen und sang alte Liebeslieder, die ich nie gehört hatte, die mir lächerlich vorkamen und die ich trotzdem gerne hörte; mehr als einmal war ich mit dem Singsang im Ohr aufgewacht. Wenn sie jedoch zur Tür der Deutschen kam, brach das Singen ab, schweigend öffnete sie mit ihrem Schlüssel die Tür und machte sie hinter sich wieder zu; wenn sie sah, daß sie alleine war, begann sie flüsternd zu sprechen. Eines Morgens, als ich vorbeiging, sah ich ein Handtuch auf dem Boden liegen und hob es auf, klopfte und rief nach ihr. Maria öffnete, und ich sah, daß ihre Augen rot waren vom Weinen. Ich fragte sie, was passiert war. Sie setzte sich aufs Bett, blickte mich an und sagte, daß sie gehört habe, daß in Kriegszeiten in meiner Gegend, dem Aretino, tapfere Partisanen wichtige Aktionen ausgeführt hätten. In ihrem Ort bei Ravenna hätte es allerdings keine Partisanen gegeben, als die SS auf dem Rückzug ihren Vater und ihren achtzehnjährigen Bruder mitnahmen und am nächsten Tag in einem Nachbardorf erschossen. ,Diese verdammten Mörder‘, murmelte sie und trocknete sich die Augen. (...) Jedesmal, wenn sie einen Deutschen sah, verspürte sie eine Aversion und Rebellion in ihrem Innern, und ihr Traum war, auf einen Stuhl zu steigen und ihnen, wenn sie ein Zimmer in der Pension mieten wollten, ins Gesicht zu schreien: ,Haut ab hier! Wir wollen euch nicht! Geht zurück, woher ihr gekommen seid!‘“ (Massimo Palazzeschi: Rimini, August 1980).
Lieber gesehen wurden da schon die nordischen Touristinnen, die für die italienische Männerwelt zum Symbol für sinnliche Freizügigkeit geworden waren. Das Anbandeln am Strand gehörte zum obligatorischen Ritual: „In den ersten Tagen wurden Anneliese und ich von Heerscharen junger Männer belagert, die Abenteuer suchten. Unermüdlich verfolgten sie uns, die schwierige Kunst der Verführung ausübend. Sie klebten an uns wie Fliegen und waren genauso schwer wieder loszubekommen: Wir fragten uns, ob alle Italiener unseres Alters so seien“ (Ellen Kappel, Adriaküste in den frühen Sechzigern). Trotzdem wurde hier aus manchem Flirt ehelicher Ernst. Dann klingt dasselbe Lied ganz anders: „Ach, der Zauber der Adriaküste! Ihre Sonne, ihr Meer, die Liebenswürdigkeit ihrer Leute, der würzige Geschmack ihrer unvergleichlichen Küche, die Verlockung und die Versuchung ihrer Nächte! Ich wende mich an Dich, junge Landsmännin: Wenn Du zu puritanisch oder vor der Sünde zu schwach bist, gehe nicht hin!“ (Jutta Rüstig, Adriaurlaub in den frühen fünfziger Jahren).
Das Image der Adria als Treffpunkt junger Leute dominierte immer stärker das Bild der Küste im In- und Ausland. Das Meer, selbst nur noch bedingt zu gebrauchen, wurde von den rund ums Jahr funktionierenden Super- und Mega-Diskotheken in den Hintergrund gerückt. „Der Wochenendrummel vertreibt unsere letzten Pensionsgäste, die Ruhe suchen“, stöhnt die Besitzerin vom Hotel Nadia in Cervia.
Der zeitgenössische Adria-Besucher beschreibt seine Absichten so: „Wir sind echt eine elendige Bande, Luca, Theo und ich. Gestern war Samstag, und in Mailand war die Luft dick wie Brühe. Herbststimmung und Melancholie erstickten das Quadrat von Himmel, das ich vor meinem Fenster sehe. Wir mußten einfach was Verrücktes machen. (...) Wir haben uns also getroffen, Luca, Theo und ich, wie jeden Samstag. Nur diesmal waren wir noch schlechter drauf als sonst. Da hatte Luca die Idee: ,Fahren wir los, am Abend sind wir in Rimini, essen eine Pizza und streunen dann die ganze Nacht an der Küste rum. Bis zum Morgengrauen.‘ Theo fischte eine Zigarette aus dem Päckchen. Aus seinen Nasenlöchern trat eine Wolke Rauch: ,Machen wir den Wahnsinns-Trip, vierundzwanzig Stunden, ohne zu schlafen.‘“ Der zweite Teil des Berichtes wurde im Krankenhaus geschrieben, mit mehr Glück als Verstand haben die drei schwerverletzt den Zusammenprall mit einem Lichtmast am Straßenrand überlebt (Alberto Cucciati).
Geschichten, Erinnerungen, Meinungen zum Thema italienische Adria werden sorgsam archiviert und haben gute Chancen, mit einem Badeurlaub im nächsten Sommer prämiert zu werden. Einsendungen und Informationen: Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum, Via Paolo Guidi, 108, I 47041 Bellaria (RN), Einsendeschluß: Februar 1994.
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