Mann hinterm Treppchen

Gerd Osenberg hat seit 1970 viele Leichtathleten in die Weltspitze geführt / Hintergründiges über den Trainer im Hintergrund  ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim

Wenn der Wettkampf beginnt, ist der Trainer machtlos. Gerd Osenberg sitzt, nein, meist steht er, bei der WM in Stuttgart unter den Zuschauern. Auf 1,93 m liegt die Latte. Eigentlich ein Katzensprung für die Olympiasiegerin. Heike Henkel läuft an – und reißt. „Osi“, wie sie ihn nennt, gestikuliert. Manchmal hilft die Zeichensprache. Ulrike Meyfarth-Nasse erinnert sich: „Einmal, beim Weltcup in Rom, wußte ich gar nicht, wo er saß. Er machte mir Zeichen, merkte gar nicht, daß ich ihn nicht sah. Ich gewann.“ Heike Henkel hantiert mit dem Eisspray. Sie reißt wieder. Der Fuß. „Gerd Osenberg schafft es, um eine Verletzung herum zu trainieren“, weiß Heide Ecker-Rosendahl aus eigener Erfahrung. Bei der Achillessehne fällt das schwer. Die ist bei jedem Sprung dabei. Heike Henkel reißt auch beim dritten Versuch.

Osenberg geht hinaus. „Ein Trainer ist der Spiegel des Athleten“, sagte Sergej Bubka einmal, „er sieht tief in die Seele des Menschen und erkennt die Fehler des Sportlers.“ Gerd Osenberg ist ein Meister seines Faches, reif fürs Spiegelkabinett: Heide Rosendahl (Olympiasiegerin in München und Weltrekordhalterin 1972 im Weitsprung und Fünfkampf-Zweite), Liesel Westermann (Diskusweltrekordlerin 1967 und Silbermedaillengewinnerin 1968 in Mexiko), Thomas Wessinghage (Europameister 1982 in Athen über 5.000 Meter), Ulrike Meyfarth (Olympiasiegerin im Hochsprung 1972 und 1984), Carlo Thränhardt (Hallenweltrekordler im Hochsprung 1988) haben seine Schule durchlaufen. Große Namen, völlig unterschiedliche Typen in völlig verschiedenen Disziplinen. Wie macht Osenberg das?

„Es gibt keine Geheimnisse“, sagt er. Ruhig, nüchtern, sachlich. Wie ein Physiklehrer, der erklärt, daß eine Feder im luftleeren Raum genauso schnell zu Boden fällt wie eine Eisenkugel. Und richtig: Der Mann hat nicht nur Sport, sondern auch Mathe und Physik studiert. Er zuckt mit den Schultern. Warum soviel Aufhebens um ihn? Er verrichte eben seinen Job so, wie er ihn verstehe: einfach gut. Typisch Osenberg. Über seine Asse steht alles in den Annalen der Leichtathletik, von Osenberg findet man dort noch nicht einmal das Geburtsdatum, geschweige denn die Auflistung seiner Erfolge. Hexerei und Sensationen gibt es nicht für ihn. Nur solide Arbeit, hart und ehrlich. Die Athleten suchen Osenberg, der seit 1965 in Leverkusen als hauptamtlicher Trainer arbeitet. „Ich sage den Talenten, in welcher Disziplin und mit welchem Aufwand sie wohin kommen können.“

Entweder sie bleiben und kooperieren oder gehen. „Athleten, die immer getreten werden wollen, machen ihm keinen Spaß“, weiß Ulrike Meyfarth-Nasse. Sie suchte Osenberg 1977, als sie nach ihrem Gold in München und dem Scheitern in der olympischen Qualifikation vier Jahre darauf in ein tiefes Loch gefallen war. Sie fand einen Mann, der im Plauderton lenken kann, kreativ und beharrlich arbeitet. „Der Hochsprung ist meine große Bewährungsprobe“, sagte er. 1984 in Los Angeles, als Ulrike Meyfarth zum zweiten Gold floppte, stubste er Heike Redetzky (heute Henkel), die neben ihm stand, und setzte ihr einen Floh ins Ohr: „Das kannst du auch.“

Sie konnte es. In Barcelona, acht Jahre später. Vom schnellen Aufputschen hält Osenberg nicht viel, von Doping überhaupt nichts. Vom langsamen Aufbau um so mehr. „Das bin ich dem Körper des Athleten schuldig.“ Er leidet mit, wenn Heike Henkel unter Schmerzen leidet. Obwohl nicht sein Training die Ursache der Verletzung ist. Heike Henkel ist umgeknickt vor eineinhalb Jahren, seither ist das Fußgelenk zu locker. „Meine Athleten hielten sich alle lange in der Spitze.“ Kein übermäßiger Verschleiß. Kann man einem Trainer ein besseres Kompliment machen?

Heike Henkel kapituliert. Sie müßte sich Cortison spritzen lassen. „Athletics without doping“ steht auf ihrem T-Shirt. Das Aus in Stuttgart nach der Quali: „Ich habe mir die Nase rot geheult. Aber ich kann keine schlimme Verletzung riskieren. Schließlich will ich noch länger springen.“ Sie fuhr heim, „Osi“ blieb, saß gestern wieder auf der Tribüne. Sein Rat war gefragt. Kommunikation über den Zaun hinweg. Mit seinem jüngsten Schützling, Hendrik Beyer. „Der Letzte, den ich noch in die Weltklasse bringen möchte.“ 2,36 m ist er in der Halle bereits gesprungen. „Irgendwann einmal wird er auch die 2,40 m überqueren“, prophezeit Osenberg, „vorausgesetzt, er lernt, sich in Geduld zu üben.“ Gestern wollte er sich erst fürs Finale am Sonntag qualifizieren (nach Redaktionsschluß).

„Osenberg kann sich sehr gut auf jeden Athleten einstellen, hat nie Druck ausgeübt, war höchstens indirekt autoritär“, charakterisiert Ulrike Meyfarth-Nasse den Mann hinterm Treppchen. Sohn Frank (27) sagt: „Mein Vater hat sich nie beschwert über schlechte schulische Leistungen.“ Osenberg – eine Autorität, nicht autoritär. „Für mich gibt es kein Dogma des Lehrens“, läßt er sich entlocken, während sein Blick unablässig durchs Stadionrund kreist, „und auch kein Abziehbild eines idealtypischen Sportlers.“