: Technikersieg und Heldenlied
Fridtjof Nansens große Expedition an den noch unentdeckten Nordpol ■ Von Hermann Schlösser
Die „Fram“ war ein gutes Schiff. Mit drei Zylindern arbeitete ihre Maschine, aber durch einen einfachen Ventilmechanismus konnte man sie auf Zwei- oder sogar Einzylinderbetrieb umstellen. So war für mögliche Ausfälle Vorsorge getroffen und zugleich kohlesparendes Fortkommen gewährleistet. Auch war die Maschine leicht zu zerlegen, konnte also während der jahrelangen Eisdrift ausgebaut und in Kisten verpackt werden. Ein besonderes Schiff war die Fram: kompakt gebaut, kurz, aber stark und breit, die Wände abgerundet, so daß die Eispressungen den Rumpf nicht zermahlten, sondern ihn in die Höhe schoben und auf den riesigen Schollen von Osten am Nordpol vorbei nach Westen trugen. In gründlicher wissenschaftlicher Überlegung hatte man das Fahrzeug konzipiert, mit modernsten technischen Mitteln wurde es gebaut.
Vor hundert Jahren, im Frühsommer 1893, brach eine norwegische Polarexpediton unter Fridtjof Nansens Leitung mit dieser Fram ins nördliche Eismeer auf. Drei Jahre lang blieb sie dort. Die Mannschaft mußte in dieser Zeit auf den Komfort des späten 19. Jahrhunderts nicht völlig verzichten. Eine Windmühle trieb den Dynamo an, der den wohlisolierten und geheizten Salon des Schiffes mit elektrischem Licht erleuchtete. In einer Harmoniumsmaschine drehten sich Musikwalzen. Die Fleisch- und Gemüsekonserven waren nach neuestem ernährungswissenschaftlichem Standard ausgesucht. Die Mannschaft blieb von Skorbut, Erfrierungen und Depressionen verschont und kam 1896 ebenso wohlbehalten nach Norwegen zurück wie ihr Schiff. Die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Reise wurden erheblich bereichert durch die Ausbeute der fotografischen Apparate, die man an Bord mitführte.
So weit wie Nansen war keiner vor ihm nach Norden vorgestoßen, vor allem aber hatte noch keine Mannschaft so unversehrt aus dem Norden wieder zurückgefunden. 1847 endete eine englische Expedition mit dem völligen Schiffbruch der „Erebus“ und der „Terror“ und mit dem Hunger- und Kältetod der gesamten Besatzung. John Franklin, Chef der Expedition, war ein Mann der alten christlichen Seefahrt, skeptisch gegen das neu erfundene Dampfschiff wie überhaupt gegen den technischen Fortschritt mißtrauisch. Er entdeckte die Nordwestpassage, die am Pol und an Amerika entlang nach Asien führt. Zur Beschleunigung des Schiffsverkehrs erwies sie sich als unbrauchbar. Das Eis, das sie bedeckt, wurde Franklins Grab.
1872 brach eine „k.u.k.-österreichisch-ungarische Nordpolexpedition“ unter der Leitung des Kapitäns Carl Weyprecht auf. Nach einem entsetzlichen Winter im Packeis entdeckten die Seefahrer eine Inselgrupppe, die sie „Franz-Joseph-Land“ nannten. Nach einem weiteren Winter im Eis vermaßen und kartographierten die Entdecker ihr Land. Julius Ritter von Payer, der „Commandant zu Lande“, geriet dabei in einen wahren Entdeckungs- und Benennungsrausch, taufte Kaps und Fjorde mit Namen der k.u.k.-Prominenz, trieb schließlich sich und seine Mannschaft bis an den Rand der Kräfte. Am Ende mußte die Expedition ihr schwer beschädigtes Schiff, die „Admiral Tegetthoff“, aufgeben. Ein Gewaltmarsch über das Eis brachte die meisten im letzten Moment in wärmere Gefilde zurück. Kapitän Weyprecht starb wenige Jahre später an den Folgen der Strapazen. Payer verrannte sich in einen Kampf um die Anerkennung seiner Leistungen und starb verbittert und arm. Nansen wies während seiner Forschungsreise nach, daß einige der Karten, die Payer gezeichnet hatte, falsch waren.
Verglichen mit dem Gentleman-Entdecker Franklin, verglihen aber auch mit Payer, dem romantisch umgetriebenen Ritter, der Österreichs Ehre bis zum Nordpol tragen wollte, wirkt Fridtjof Nansen wie ein kalter Techniker. „In Nacht und Eis“, sein Bericht über die Polreise, liefert über weite Strecken nur technische Daten und sachliche Informationen. Selbst das Gewicht der Schlittenhunde wird präzise überliefert: Bielki war der leichteste (17,3 kg), der schwerste war Kvik (37,5 kg).
Im Februar 1895 verließ Nansen dann die Fram, um den Pol, den das Schiff auf seiner Drift verfehlte, zu Fuß zu erreichen. Ein einziger Mann, Fredrik Hjalmar Johansen, durfte ihn begleiten. Gut vorbereitet und durchdacht war auch dieser Marsch. Aber die Kräfte reichten nicht aus, und die beiden Männer erreichten den Pol nicht. 17 Monate lang irrten sie durchs Eis, wurden schließlich von einer englischen Expedition aufgefunden und nach Norwegen zurückgebracht. Wenig später war auch die Fram wieder daheim.
Wie eine gut aufgezogene Uhr war die Nansen-Expedition also durchs Eis der Arktis gelaufen. Ihr Gelingen war nur eine Frage der Zeit. Aber erst Nansens und Johansens Fußmarsch gab dieser Uhr die Unruhe. Durch mutwillige Provokation von Lebensgefahren sollte aus dem technischen Vorgang doch noch ein Heldenlied werden. Die Arktis, eines der letzten großen Sehnsuchtsziele der Menschheit, sollte nicht nur vermessen und kartographiert, sie mußte auch erkämpft und erblutet werden.
Schon zu Lebzeiten brachte Nansen diese Haltung nicht nur Ruhm ein. Der amerikanische Polarforscher Greely, dessen eigene Expedition einige Jahre vorher gescheitert war, tadelte Nansens Aktion als unverantwortlichen Leichtsinn und sah in dem Gewaltmarsch vor allem eine Pflichtvergessenheit der Mannschaft gegenüber.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Nansen Kommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, er erhielt dafür 1922 den Friedensnobelpreis. In der großen Geschichte des Fortschritts wie der politischen Verbesserung der Welt hat Nansen also einen sicheren Platz.
Aber wo es große Geschichte gibt, da steigen auch Kontrastbilder in vielen kleinen Geschichten auf. In ihnen werden all diejenigen zu Helden, die aus eigener Kraft gescheitert sind, während der Ruhm derer verblaßt, die ihre Erfolge technischen Prothesen verdanken. Wer in der Wissenschafts- und Politikgeschichte als Vorläufer oder als Gescheiterter erscheint, findet einen angemesseneren Ort meist in der Literatur. So beschrieb Sten Nadolny die Lebensgeschichte des glücklosen Polarforschers Franklin in seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Das Buch wurde ein großer Erfolg. Auch Christoph Ransmayrs Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ hat mehrere Auflagen erlebt: Er bescheibt das traurige Schicksal der „k.u.k.-Nordpolexpedition“ in den teils leuchtenden, teils melancholisch düsteren Farben des ewigen Eises.
Nur über Fridtjof Nansen ist kein derartiger Roman bekannt.
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