Entdeckerspürsinn — unsere einzige Chance

■ taz-Gespräch mit Klaus Pierwoß, dem künftigen Generalintendanten des Bremer Theaters / „Da müssen wir sehr risikofreudig sein“

taz: Die Strahlkraft des Wortes „Bremer Theater“, so sagen Sie, hat dazu beigetragen, daß sie sich für Bremen entschieden haben. Welche Qualitäten verbinden Sie denn heute mit diesem Begriff?

Klaus Pierwoß: Naturgemäß ist das immer mit einem retrospektiven Blick verbunden. Das hat sicher mit dem zu tun, was unter Hübner hier stattgefunden hat. Das hat mit Namen zu tun wie Wüstenhöfer, Tabori, Kresnik, Reinhild Hoffmann. Da haben Prozesse stattgefunden, die in den unterschiedlichen Sparten etwas bewegt haben in der künstlerischen Arbeit und die für die gesamte Theaterrepublik wichtige Impulse gegeben haben. Es gehört selbstverständlich auch zum Kandidatenritual, daß jeder sagt: Ich mache es wieder so gut wie Hübner. Sowas ist leicht gesagt und schwer getan. Aber diese Namen sind für mich erstmal eine Aufmunterung, daß hier wieder was Aufregendes stattfinden könnte.

Ich will andererseits nicht verdrängen, daß zu dieser Geschichte genauso auch das Stichwort „Bremer Theatertod“ gehört. Wobei das bei allem Negativen, das ihm anhaftet, auch etwas Positives hat, wenn ich es jetzt mit der aktuellen Situation in Berlin vergleiche. Wir haben damals den Protest dagegen organisiert, konnten die drohende Schließung in Bremen abwenden, und man hat sogar in einem positiven Bumerangeffekt den Bau des Schauspielhauses bekommen.

Gibt es denn bestimmte Ansätze aus dieser Zeit, die unter dem Begriff „Bremer Stil“ firmiert, an die Sie wieder anknüpfen möchten?

Das ist auf keinen Stilbegriff zu bringen, ist glaube ich gar nicht notwendig. Das ist das Be

Die Mittel reichen nicht,

um sich an diesem

Reisezirkus der Theater-Bundesliga

zu beteiligen

dürfnis der Historiker, die das hinterher gerne einordnen möchten. Entscheidend war, daß es hier eine Versammlung von Kräften gab, die später eine ganz entscheidende Rolle gespielt haben. Und da hat der Hübner einen ziemlich einmaligen Spürsinn entwickelt und auch einen starken Sinn gehabt für die Erfordernisse dieser Zeit des Umbruchs.

Mangelnden Entdecker- Spürsinn haben Sie vor ein paar Wochen in einem Zeitungsartikel dem Berater des Berliner Kultursenators in Theaterdingen, Ivan Nagel, vorgeworfen. Ist Entdeckerspürsinn etwas, das Sie selbst besitzen und das man braucht in Bremen?

Ich glaube, daß das fast die einzige Chance ist. Die finanziellen Mittel am Theater reichen nicht aus, um sich an diesem Reisezirkus der Theater-Bundesliga zu beteiligen. Man muß sich überhaupt von diesem Denken verabschieden, daß über reichhaltige Mittel etwas wirklich Bewegendes und Anstößiges und Widerspruchsreiches zustandekommt. Das geht überhaupt nicht mehr. Ich sehe gerade am Beispiel der Berliner Volksbühne, wo Frank Castorf und seine Leute unbesehen davon, daß andere Häuser in Berlin viel opulenter ausgestattet sind, ein Theater machen, das eine große Lebendigkeit hat. Das sicher vielen überhaupt nicht gefällt. Das etwas Originäres hat, das man nicht kopieren kann. Diese Theaterleute haben sich vom Denken in opulenten Produktionsmöglichkeiten verabschiedet. Da ist auch wieder eine gewisse Spontanität und Entschiedenheit eingekehrt. Da ist nicht die erste Frage: Wieviel Geld haben wir zur Verfügung, welche Schauspieler kann man einkaufen?

Ich glaube, daß man in Bremen einen solchen Entdeckerspürsinn entwickeln muß. Und ich glaube, daß ich da doch gewisse Fähigkeiten habe. In meiner Kölner Zeit ist es mir immerhin gelungen, Castorf zu seiner ersten Arbeit im Westen zu verführen, ebenso den bulgarischen Regisseur Dimiter Gottscheff. Ich glaube, daß ich in dem, was ich bei Nagel an mangelndem Entdeckerspürsinn kritisiere, einfach besser bin als er.

Umgekehrt finde ich aber auch die Behauptung fatal, daß nur ohne Geld noch gutes Theater machbar ist.

Ich plädiere nicht dafür, daß man dem Theater irgendwas wegnehmen sollte, um Gottes Willen. Man muß auch diesem Mythos widersprechen, das Theater sei ungeheuer teuer geworden. Es gibt Statistiken, die klar belegen: Die Theateretats sind auch nicht stärker angestiegen als die öffentlichen Haushalte. Was einfach damit zu tun hat, daß sie ans öffentliche System angeschlossen sind. Das muß man auch mal in aller Klarheit sagen, wenn die Politiker heute darüber stöhnen. Man kann nicht, was Gagen und Gehälter angeht, von heute auf morgen geschichtslos werden und sagen: Wir fangen jetzt wieder ganz von vorne an.

Wenn Kresnik geht,

heißt das nicht,

daß man das Tanztheater

schließt

Andererseits habe ich manchmal den Eindruck, daß vor allem an den bessergestellten Häusern zu sehr in diesen Kategorien gedacht wird. Davon muß man sich verabschieden. Es gibt ja auch Beispiele, wo mit noch so viel Geld Flops herausgekommen sind, wenn ich nur an den „Blauen Engel“ denke, den Zadek in Berlin gemacht hat. Da hat er den Stab seiner Wahl gehabt, die Schauspieler seiner Wahl, es gab überhaupt keine Beschränkungen irgendwelcher Art. Das Ergebnis stand dann in umgekehrtem Verhältnis zu dem, was da finanziell und nominell investiert worden ist.

Für das Risikofreudige im Theater steht hier in Bremen ja vor allem Hans Kresnik. Wollen Sie versuchen, ihn und das Tanztheater hier zu halten und an diese Tradition des Riskanten und Experimentiertfreudigen anzuknüpfen?

Ich fände es gut, wenn Kresnik hierbliebe. Aber ich weiß nicht, ob das nicht eher ein frommer Wunsch von mir ist, angesichts der Impulse, die von ihm und auch aus Berlin kommen. Aber wenn er weggeht, kann es keines

hier der Kasten „Klaus Pierwoß“

falls die Konsequenz sein, daß man hier das Bremer Tanztheater schließt. Ich habe wirklich nicht das geringste Interesse, hier mit einer Spartenschließung anzufangen. Gerade das Tanztheater hat das Bremer Theater im Positiven Sinn geprägt. Das ist für mich eine Herausforderung. Da muß man etwas Neues eröffnen. Falsch wäre es auch, jetzt einen Mitarbeiter von Kresnik machen zu lassen. Einen zweiten Kresnik gibt es nicht, er ist in seiner Spezifik einmalig. Da müßte man versuchen, mit anderen Tanztheaterleuten etwas anderes zu entwickeln. Ich bin sehr zuversichtlich, daß das gelingen kann.

Können Sie sich vorstellen, daß das Stadttheater auch stärker mit freien Theatergruppen zusammenarbeit - zum Beispiel im Concordia, das zur Zeit fast allein vom Tanztheater bespielt wird?

Da habe ich überhaupt keine Berührungsängste. Als ich Intendant in Tübingen war, fiel das in die Zeit eines Theaterneubaus. Dadurch ergaben sich auch ganz neue Spielmöglichkeiten für diese Stadt, wir haben sehr eng mit freien Gruppen zusammengearbeitet. Mitte der siebziger Jahren gehörten wir damit zu den wenigen etablierten Theatern, die systematisch mit Freien etwas gemeinsam gemacht haben. Das hat sehr gut funktioniert. Was nun das Concordia angeht: Als mich die Senatorin auf diesen Spielort angesprochen hat, habe ich mich zunächst sehr vorsichtig verhalten, weil ich natürlich einen Proben- und Aufführungsort des Theaters nicht einfach aufgeben will. Ich habe mir gerade in der letzten Woche

alle Spielorte genauer angesehen und muß jetzt ein Konzept machen, was wo wie stattfindet. Vielleicht wird es auch einige Überraschungen geben, daß wir an bestimmten Orten Sachen machen, die es dort bisher noch nicht gegeben hat; daß man vielleicht Tanztheater im Brauhauskeller macht und im Concordia eine Oper, die natürlich vom Orchesteraufwand her nicht zu groß sein dürfte. Das Concordia ist ein Ort, der eine ganz große Geschichte hat in Bremen. Bedauerlich, daß er jetzt zu sehr brachliegt. Aber dieses Brachliegen führt verständlicherweise dazu, daß andere Theaterleute in der Stadt sagen: Warum gebt ihr uns das nicht? Ich kann schon verstehen, daß diese Frage jetzt aufkommt. Aber für eine solche Entscheidung brauche ich noch ein wenig Zeit.

Sehen Sie konkrete Möglichkeiten, sich als Theater künftig anders in der Öffentlichkeit darzustellen; zur Zeit wird ja wenig über Inhalte gesprochen, sondern eher über das Theater als millionenverschlingender Schuldenmacher.

Theater macht ja erstmal keine Schulden. Wie immer Sie Theater machen, das ist so personalaufwendig, daß es immer sehr teuer wird. In Köln hat man unter meinem Vorgänger Jürgen Flimm versucht, die ganze bühnentechnische Apparatur, soweit es ging, zu technifizieren, um eine Rationalisierung beim Personal zu erreichen - der Effekt war relativ gering. Sowas wird man nicht ändern können. Auch, wenn man die berühmten Strukturreformen durchgeführt

Es scheint mir dringend

notwendig zu sein,

daß man sich publikumsfreundlicher

verhält.

Indem man

die Leute wirklich ernstnimmt

-auch dann,

wenn sie etwas ablehnen,

was man gemacht hat

hat und das Theater im Ergebnis weniger kosten wird, bleibt der Punkt, daß sich alle Theaterträger dazu bekennen müssen, daß sie so ein Institut finanzieren wollen. Die Eigeneinnahmen werden immer zwischen zehn und 20 Prozent des Haushalts liegen. Ich finde dieses System auch in Ordnung. Das Problem ist doch eher, daß sich diese Geldausgaben leider zu selten über eine lebendige Theaterarbeit legitimieren.

Sie hatten als Beispiel für eine andere Selbstdarstellung des Theaters auch schon mal vom direkten Gespräch mit dem Publikum gesprochen. Wie könnte sowas aussehen?

Ein wesentlicher Bestandteil dessen, was hier ab Sommer 94 stattfindet, wird das sein, was ich unter Publikumsarbeit verstehe. Daß man einiges macht, wo die Leute auf ganz andere Weise vom Theater angezogen werden. Es scheint mir dringend notwendig zu sein, daß man sich publikumsfreundlicher verhält. Bei

Ich bekenne mich zu dem Satz: Subventionen sind Risikoprämien und keine Anpassungshonorare

manchen Theaterleuten habe ich den Eindruck, als ob die Zuschauer für sie unangenehme Störenfriede sind. Es wird wichtig sein, daß man das Haus wirklich öffnet und nicht, wie es jetzt leider in Bremen viel zu stark der Fall ist, das Haus schließt. Man muß wieder das aktivieren, was Brecht einmal der Entwicklung von Zuschaukunst genannt hat. Indem man die Leute wirklich ernst nimmt - auch dann, wenn sie etwas ablehnen, was man gemacht hat. Ich finde das ist das gute Recht des Publikums. Ich empfinde es immer als ungeheure Selbstblamage, wenn Theaterleute als Erkärung für ihr eigenes Versagen das „Publikumsversagen“ anführen.

Damit meine ich nun gar nicht, daß man sich bei den Zuschauern auf billige Weise anbiedert. Aber man muß die Leute einfach ernst nehmen. Ich glaube, daß es hier in Bremen ein großes Potential an sehr wachen und interessierten Besuchern gibt. Und das muß man versuchen, anzusprechen.

Und zwar direkt anzusprechen, von Schauspieler zu Besucher?

Ja, sicher. Heiner Müller sagt: Das wirklich Politische am Theater sind die Vorgänge zwischen Bühne und Publikum. Dafür müssen natürlich erstmal Dinge stattfinden in diesen Häusern, die für das Publikum von Interesse sind. Wobei oft das von großem Interesse ist, was sehr

Ich glaube, daß die Leute eigentlich sehr neugierig sind. Man muß was riskieren, auch auf die Gefahr hin, daß es danebengeht

zwiespältige Reaktionen hervorruft. Gerade in einer Zeit, wo die Ausgewogenheit fetischisiert wird und wo die Harmoniesucht großgeschrieben wird, da ist der Widerspruchsgeist angesagt. Da muß das Theater quersteuern zu den vielen Wirklichkeitsdarstellungen, die um uns herum sind.

Ich habe den Satz zwar nicht erfunden, aber ich bekenne mich zu der These: Subventionen sind Risikoprämien und keine Anpassungshonorare. Das viele Geld, das fürs Theater ausgegeben wird, ist auch eine Verpflichtung zum nicht Marktgängigen. Das wird insgesamt zu wenig gemacht.

Das Theater als Veranstalter von Diskussionen übers Theater - ist auch sowas wieder denkbar?

Sicher, wobei ich es viel spannender finde, wenn das Theater eine Diskussion und Reflexion über die Lebensverhältnisse anstoßen kann. Es muß auch Diskussionen übers Theater geben, aber die sind manchmal auch ermüdend. Vor allem diese Geld- und Strukturreformdebatten fangen irgendwann an, sich im Kreise zu drehen. Da finde ich es spannender, wenn Theater wieder die Kraft hat, durch Darstellungen zurückzuverweisen auf unsere Wirklichkeit. Mein wesentlicher Impuls, Theater zu machen, ist immer wieder die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Insofern ist die Frage nach der Darstellung des Theaters nicht nur eine Frage des schönen Logos und der guten grafischen Gestaltung. Das hat nicht nur mit der Selbstdarstellung zu tun, die man nach außen trägt, sondern mit der Darstellung auf der Bühne.

Ich glaube auch, daß die Leute eigentlich sehr neugierig sind. Was diese ganze Verkabelungswelt angeht, gibt es doch auch eine gewisse Müdigkeit. Es ist doch egal, ob es Kanal eins oder 24 ist: Das gleicht sich immer mehr an. Deswegen meine ich, das Theater muß die Leute ansprechen. da sehe ich Chancen und Möglichkeiten. Dazu müssen wir sehr risikofreudig sein und dürfen nicht zu schnell karrierebewußt und ängstlich werden. Man muß was riskieren. Auch auf die Gefahr hin, daß es danebengeht.

Fragen: Thomas Wolff