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Die Hoffnung auf das kleine blaue Buch

Noch bis August läuft in Spanien eine Legalisierungskampagne für bisher illegale Ausländer. Wer die Auflagen erfüllt, bekommt eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis. Den anderen droht Abschiebung  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

„Madrid 28 – Gewerkschaftsbüro 01 – Antrag 000392“, murmelt Deli, während sie mit einem Bleistift die Zahlenkombination in die grauschattierten Kästchen einträgt. „Antrag zum Anlegen einer Akte“, prangt in roten Großbuchstaben oben auf dem vierseitigen Faltblatt. Ihr gegenüber sitzt ein junger Mann: Jeans, Turnschuhe, das Hemd bis auf die Brust geöffnet. Erwartungsvoll blickt er auf Deli, während sie langsam die letzten Ziffern malt. Neben ihr auf dem schäbigen Schreibtisch liegt ein Stapel ausgefüllter Formulare, vor dem jungen Mann ein Stoß fein säuberlich geordneter Papiere. Die Stempel deuten auf deren Wichtigkeit – amtliche Dokumente. Zuoberst ein kleines hellblaues Büchlein, die Aufenthaltsgenehmigung. Das Datum unter dem Paßfoto gleich neben dem spanischen Staatssiegel verrät: Sie ist vor einem Jahr abgelaufen.

Deshalb ist der junge Mann hier. Als eine Art Abschiedsgeschenk hat die scheidende sozialistische Regierung unter Felipe González eine Legalisierungskampagne eingeleitet. Wer bis zum 23. August die erheblich vereinfachten Auflagen erfüllt, erhält erneut den begehrten Stempel ins blaue Büchlein – für zwei Jahre. Wer nicht, bleibt illegal und muß im Falle einer Polizeikontrolle mit Abschiebung rechnen. Das Innenstadtbüro der Arbeiterkommissionen (CCOO) ist einer von mehreren Orten, wo dieser Tage die illegalen Immigranten kostenlos Rechtsbeistand erhalten.

Der Raum im ersten Stock der Madrider Gewerkschaftszentrale liegt am Ende eines langen Ganges. „Informationszentrum für ausreisewillige Arbeiter (CITE)“ steht auf dem Schild neben der Tür. Der Name stammt noch aus Zeiten, als es viele Spanier ins Ausland zog. Jetzt kümmert sich CITE um Immigranten, die nach Spanien gekommen sind: aus Lateinamerika, dem Maghreb, aus Schwarzafrika und Osteuropa. Der Flur vor dem CITE-Büro dient als Warteraum. Die Stühle aus Kunststoff verbreiten den Charme einer Bushaltestelle. Die Luft ist verraucht. Die Wartenden rutschen in den Sitzschalen hin und her. Auf einem alten Schreibtisch liegen Broschüren zur Legalisierung. Sie interessieren niemanden. Alle wissen längst Bescheid. In der Ecke stapeln sich Kartons. Das Logo einer Computerfirma verrät ihren einstigen Inhalt.

Das Gerät ziert jetzt den Schreibtisch von Deli – das einzig Neue in diesem von Neonröhren beleuchteten Raum. Drei Schreibtische, wohl irgendwo ausgemustert, lassen kaum Platz, um sich zu bewegen. Überall blättert Chrom und Farbe ab. Ein Plakat mit einem Schwarzen und einem Anti- Rassismus-Gedicht ist an die Wand geklebt. Der junge Mann betrachtet es nur kurz. Dann kehrt sein Blick zurück zu dem Fragebogen. Er sitzt vorn auf der Stuhlkante, die Knie wippen rhythmisch. Endlich bricht Deli das Schweigen. „Ihr Name bitte?“ – „Luis Sanchez.“* Sein Akzent nimmt vorweg, was Deli mit ihrer nächsten Frage wissen will: „Herkunftsland?“ Luis kommt aus Peru. „Alter?“ – „31 Jahre.“ Der Bleistift fügt die Information in die Kästchen ein. „Seit wann in Spanien?“ – „Seit Mai 1991“, kommt die Antwort, ohne lange zu überlegen. „Datum der ersten Aufenthaltsgenehmigung?“ Er denkt kurz nach, die Stirn legt sich in Falten: „Ich kam als Tourist. Das war damals noch ohne Visum möglich.“ Zurück nach Lima wollte er auf keinen Fall. „Zuviel Terrorismus, zuviel Repression, zuwenig Lohn.“ Nur wenige Monate nach der Ankunft griff die Regierung zu einer ähnlichen Maßnahme wie heute. In der ersten Legalisierungskampagne erhielten 130.000 Immigranten ihre Papiere, auch Luis. „Ich hatte den richtigen Riecher“, sagt er. „Also Dezember 1991“, beantwortet Deli selbst die Frage nach dem Datum.

„Bisherige Arbeiten?“ – „Immer im Hotel und Gaststättengewerbe“, antwortet Luis. Die Nervosität ist gewichen. Auch wenn Deli nur kurze knappe Fragen stellt, versteht sie zuzuhören. Das leichte Lächeln gibt ihrem von einer lockigen Kurzhaarfrisur eingerahmten Gesicht einen vertrauenerweckenden Ausdruck. Luis kommt ins Erzählen. „Bei meinem ersten Job hatte ich einen richtigen Vertrag in einer großen Kaffeehauskette in Madrid.“ Das war 1992 – im Jahr der Olympiade in Barcelona, der Expo in Sevilla und der Europäischen Kulturhauptstadt Madrid. „Die Nachfrage nach Kellnern war so groß, daß sich die Personalstelle um die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung kümmerte“, erinnert sich Luis. Dabei grinst er, als könne er dies im nachhinein selbst nicht mehr glauben. „Als der Vertrag auslief, kam das Übliche: Verträge für einen oder zwei Monate, gerade genug, um auf der Ausländerbehörde den alljährlichen Stempel zu erhalten. Den Rest der Zeit beschäftigten mich die verschiedenen Chefs schwarz.“

Dann war überhaupt niemand mehr gewillt, einen Vertrag auszustellen. Ohne Arbeitspapiere kein Recht auf weitere Aufenthaltsgenehmigung. Januar 1995 war es soweit. Luis ist seither „illegal“. „Genau hier setzt die Kampagne zur Legalisierung an. Bis zu deren Ende reicht es, den Arbeitswillen zu bekunden“, unterbricht ihn Deli und blättert das Formular ein letztes Mal um. Zwei Kreuze in der Rubrik „Thema des Besuchs“: 03 – Aufenthaltsgenehmigung und 07 – Arbeitserlaubnis, Unterschrift, Stempel, fertig. Deli holt einen Packen Anträge aus der Schublade. „Verfahren zur Ausstellung von Dokumenten für Ausländer in einer irregulären Situation – Königliches Dekret 155/1996“ steht in Amtsspanisch unter dem Kopf des Sozialministeriums. „Das bringen Sie mir ausgefüllt wieder, mit einer Kopie des Passes, der alten Aufenthaltsgenehmigung und drei Fotos“, sagt sie und überreicht Luis ein Büchlein mit den Adressen aller CCOO-Büros in Spanien. Auf die Rückseite hat sie die Aktennummer übertragen. „Damit können Sie Ihre Papiere auch in jeder anderen Stadt einreichen, die wissen dann Bescheid: 28 – Madrid – 01 unser Büro – 000392 – ihre Nummer“, sagt Deli. Beide erheben sich. „Gracias. Adiós!“ Ein herzhafter Händedruck.

Kaum tritt er hinaus in den Flur, machen sich dort die Nächsten fertig. Ein seltsames Paar. Der eine, ein Mann mittleren Alters, hochgewachsen, frisch rasiert, weißes, gescheiteltes Haar. Der schwarzgraugestreifte Anzug sitzt genau, auch wenn Stoff und Schnitt längst aus der Mode sind. Der andere, ein Mann gleichen Alters mit einem Vollbart und leicht struppigem Haar, ist deutlich kleiner und dicker. Er trägt teure amerikanische Markenturnschuhe, Markenjeans und eine sportliche Jacke.

Die beiden treten ein. Der Bärtige grüßt knapp, setzt sich und bedeutet dem anderen, es ihm nachzutun. Dann ergreift er das Wort. Francisco* heiße er, sei alter Gewerkschaftler bei der Busfabrik vor den Toren der Stadt. Ein Betriebsrat habe ihm von der Legalisierungskampagne erzählt. Sein Freund und Nachbar Cristo* – er zeigt auf den Mann neben sich – sei Rumäne, illegal. „Also, dann mach uns mal die Papiere fertig!“ sagt er in kollegialem und doch forderndem Ton zu Deli.

2801000393 – Cristo Lustea, 45 Jahre, aus Craiowa, Rumänien.“ Doch schon bei der Frage nach der ersten Aufenthaltsgenehmigung muß Cristo passen. Leise, aber bestimmt beginnt er seine Lebensgeschichte zu erzählen. „Bis zur Revolution arbeitete ich in einer Fabrik für Eisenbahnwaggons. Dann wurde sie geschlossen, und 10.000 Arbeiter waren auf der Straße.“ Sein gutverständliches Spanisch klingt dunkel, zu viele „u“, als würde er Latein mit hineinmischen. „Seit knapp einem Jahr bin ich jetzt mit einem Touristenvisum hier und arbeite schwarz auf dem Bau. Mit dem Geld, das ich nach Hause schicke, finanziere ich den Schulbesuch meiner beiden Töchter. Ich würde sie und meine Frau gern hierherholen.“

Deli blickt immer skeptischer. „Noch nie eine Arbeitserlaubnis gehabt – damit fehlt Ihnen das Wichtigste, um sich legalisieren zu lassen. Da ist nichts zu machen“, erklärt sie. Sie holt eines der Hochglanzflugblätter heraus, auf dem die Anforderungen genau beschrieben sind, und zeigt es den beiden. Francisco schaut kopfschüttelnd auf das Flugblatt. „Da müßte schon ein Wunder geschehen“, murmelt er vor sich hin, bevor er mit besorgter Miene Cristo zum Gehen auffordert. „Hier leben viele Rumänen, zum Beispiel Hagi, der Fußballer“, sagt Cristo noch in der Tür, als hätte er den Ernst der Situation nicht begriffen. Solche Fälle habe ich leider häufig“, sagt Deli, während sie einen kleinen gelben Zettel auf das Deckblatt des Antrags klebt: „Archivar“ – zur Ablage.“

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