: Ein Held wider Willen
Gesichter der Großstadt: Der Arzt Sebastian Dietrich war ein halbes Jahr für die Hilfsorganisation Cap Anamur in Bosniens Hauptstadt Sarajevo ■ Von Isabel Fannrich
Er nimmt sich seine Zeit. Vollbärtig, in Jeans und T-Shirt, verliert er keine vorschnellen, höflichen Worte. Die blauen Augen ruhen auf dem Gegenüber, ein Blick, der nicht ausweicht.
Gerade zwei Wochen ist es her, daß der Arzt Sebastian Dietrich von seinem Freiwilligeneinsatz in Sarajevo nach Berlin zurückgekehrt ist. Die Eindrücke von dem wechselvollen halben Jahr sind so gegenwärtig, daß er noch gar nicht richtig in Deutschland angekommen ist. Die Love Parade an diesem Wochenende, sagt er, gehe ihm „am Arsch vorbei“. Auch mit Kneipen und Kino kann er jetzt nichts anfangen; seine Gedanken gelten den Projekten, die er in Bosnien aufgebaut und geleitet hat.
Doch das halbe Jahr, das er vom Krankenhaus in Beeskow freigestellt worden war, ist um. Andere werden in Sarajevo weitermachen. Er muß jetzt seine praktische Ausbildung beenden.
Zweifel an den eigenen Fähigkeiten
Als sich der 29jährige letzten Dezember für das Peacecorps von Cap Anamur in Sarajevo meldete, kriegte er es mit der Angst zu tun: „Kann ich das überhaupt?“ Für langes Zweifeln blieb jedoch keine Zeit, da der Einsatz noch im selben Monat erfolgte.
Zunächst sollte er nur ein Hausbesuchsprojekt im moslemisch- kroatischen Stadtteil Novi Grad betreuen, um Menschen mit Medikamenten zu versorgen. Damals war die Stadt noch geteilt, viele Menschen waren geflohen, andere in ihren zerstörten Häuser allein zurückgeblieben. An allen Ecken und Enden fehlte Hilfe. Der Arzt baute ein ähnliches Projekt in der serbischen Gemeinde Grbavica auf. 150 Menschen bekamen dort Medizin und Nahrungsmittelpakete. Die Lage spitzte sich zu, als im März in Sarajevo die Grenzen fielen. Serben plünderten vor ihrer Flucht aus der Stadt Häuser und zündeten sie an.
Angesichts der Untätigkeit von UNHCR und Ifor-Truppen holte Dietrich eigenständig Menschen aus den brennenden Häusern: „Ich bin stolz darauf, daß niemand in den Flammen umgekommen ist oder sich schwere Verletzungen zugezogen hat.“ Von den Medien wurde er als Held hochstilisiert: „Die brauchten nur das Wort Feuer oder Minen zu hören, um große Augen zu kriegen. Viel entscheidender war die unspektakuläre Arbeit, Menschen täglich zu versorgen und mal nach dem Rechten zu schauen.“ Täglich sechzehn bis zwanzig Stunden arbeitete der Mediziner und organisierte im April ein Minenräum- und ein Hausbauprojekt.
In Sarajewo sei er mutiger, härter geworden
Selbstbewußt lehnt er sich zurück: „Ich habe gemerkt, ich kann das. Als Rupert Neudeck von Cap Anamur sah, daß ich viel auf die Beine stelle, bekam ich immer mehr Entscheidungskompetenzen.“ Er sei mutiger und härter geworden und habe gelernt, Sachen durchzudrücken.
Ob er das vorher geahnt habe? Das Gesundheitssystem in Deutschland gefalle ihm nicht. Mediziner in der Ausbildung schlagen sich mehr mit dem bürokratischen Dschungel herum, als daß sie das Operieren lernen: „Man wird hier nicht gebraucht. Und wenn ich mich verweigere, stürzen sich genug arbeitslose Mediziner auf meine Stelle.“ Als er 1994 zwei Wochen lang in einem Flüchtlingslager in Zaire arbeitete, kam ihm das viel sinnvoller vor. Dort sei er wirklich gebraucht worden. Insofern sei die Entscheidung für Sarajevo mit einer guten Portion Egoismus verbunden gewesen: „Wichtig zu sein ist eine sehr schöne Erfahrung. Mit dem Helfersyndrom allein kommt man nicht weit. In Deutschland aber fühle ich mich austauschbar.“
Die Wende in der DDR war die „schönste Zeit“
Diese Hilflosigkeit angesichts festgefahrener Strukturen kennt Sebastian Dietrich von früher. In der DDR – südlich von Königs Wusterhausen – aufgewachsen, legte ihm das intellektuelle, parteiungebundene Elternhaus möglicherweise einen Sinn für Rebellion mit in die Wiege. Nachdem er in der 10. Klasse aus der FDJ ausgetreten war, ging er „immer weniger Kompromisse ein“. Er versuchte vergeblich, in den medizinischen Dienst der Armee zu kommen, und strich bei der Wahl von 1986 in Anwesenheit der Offiziere sämtliche Kandidaten durch. Mit 18 war zog er an die Berliner Jannowitzbrücke und bekam wie durch ein Wunder einen Studienplatz an der Humboldt-Universität. Vor und während des Studiums arbeitete er als Hilfskrankenpfleger in der Chirurgie und Psychiatrie.
Dann kam „die schönste Zeit“ in seinem Leben. „In den Monaten Oktober bis Dezember 89 hatte ich das Gefühl, durch Flugblätter und Demonstrationen die Gesellschaft mit strukturieren zu können“, sagt er in seiner bestimmten Art, das Feuerzeug wieder in der Hand. Statt des dritten Weges kam dann jedoch die „große Leere“ nach der Wiedervereinigung.
Jetzt aber weiß er, daß er ins Ausland gehört. In Deutschland hat er hat schon keine feste Bleibe mehr, hängt zwischen zwei Welten. Noch die drei Monate in Beeskow beenden und vielleicht eine Kurzausbildung zum Tropenarzt draufsetzen. Und dann? Tschetschenien würde ihn reizen, Cap Anamur baue dort ein Krankenhaus auf. Etwas verrückt müsse man dafür schon sein. Und, als ob es ihn kalt ließe: „Meine Freunde hier haben andere Dinge im Kopf, nur wenige hören mir richtig zu. Vieles relativiert sich jetzt, zum Beispiel, wenn sich die Frau im Supermarkt darüber beklagt, daß ihr Lieblingsyoghourt nicht da ist.“
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