■ Nachschlag
: Das R.A.T.Theater inszeniert Heiner Müller mit Tschechow

Endlich darf die Schnulze zu sich kommen. Die männliche Brust weitet sich stolz, acht Männer – ein Klangkörper – erfüllen wogend, bebend, tremolierend das Theaterdock. La Paloma ohee! Aus Stakkatosprechgesang und gefährlichem Flüstern schwingt sich eine Melodie auf. Vorsicht, die Argonauten kommen über den See... Ach nein, es ist nur Theater. Heiner Müllers „Landschaft mit Argonauten“ tut abgrundtief – und bleibt Zitat. Der Argonauten Glanz erlischt. Müller befindet sich bereits jenseits des bohrenden Zweifels am Ich und Außen. Die Suche nach Wahrheit, Sinn und Gott ist eingestellt. „Ich. Wer ist das“ – war da was?

Den Text über den Argonautenzug als Identitätssuche kombiniert die Theatergruppe R.A.T. mit Tschechows Erzählung „Krankenzimmer Nr. 6“, die philosophisch gesehen als Vorläufer des Müller-Textes interpretierbar ist. Denn der Arzt des Irrenhauses ist ein rast- und ruheloser Geist, der, am Ende seiner Tage angekommen, nur mehr der Frage nach dem Sinn seiner Existenz nachspürt. Wo andere Tschechow-Figuren sehnsuchtsvoll erstarren, fällt Dr. Andrej Jefimytsch Ragin in verzweifelte Suche: Er möchte zwar und kann doch nicht mehr ans Unsterbliche glauben – geschweige denn gesellschaftlich diktierte Grenzen aufrechterhalten. Sein irrer Patient Gromow wird ihm so lange Austausch- und Ansprechpartner, bis er endlich selbst in die Anstalt eingeliefert wird und stirbt.

Wo sich inhaltlich durchaus ein gespannter Zusammenhang konstruieren ließe, versagt die Inszenierung. Müllers rhythmisierter Rätseltext ohrfeigt die geschmäcklerischen Tschechow-Sequenzen. Sie sind maximal ein pathetisch überfrachtetes Zitat des „Armen Theaters“ – jeder Ton eine Eruption oder ein dramatisches Ersticken. Vor allem Steffen Neupert als Gromow hat weder die schauspielerische Kraft noch das notwendige ordnende Regiekorsett zur Verfügung, das ihn vor Schmierentheater bewahren würde. Wahrlich, es wurde schon besser und intelligenter geklaut. So jedoch sind die stark geschminkten Figuren in einer Bühne voller Kreidestaub und effektvoll zugerichtetem Pauverismus nicht mehr als öde Oberlehrer. Petra Brändle

Bis 28. Juli, jeweils Donnerstag bis Sonntag, 20 Uhr im Theaterdock, Lehrter Kulturfabrik