: Und die Legende sülzt weiter
■ Zuviel Schlager, zuwenig Beat: „Pico. Das Star-Club-Musical“von Daddes Gaiser im Delphi
Vermutlich wurden sie alle bezahlt. Leicht ergraute Männer in schwarzen Lederjacken standen an der Garderobe und gaben Autogramme. Erwachsene Menschen hatten in ihren Plattenkisten gewühlt, um sich auf ihre alte Rattles-Scheibe kritzeln zu lassen, was ihnen vor dreißig Jahren versagt blieb: eine unleserliche Unterschrift vom Idol. Fernsehteams traten sich im Foyer auf die Füße, den Spot stets bereit für bekannte Gesichter. Oder besser: unbekannte, verbrauchte Gesichter, denen die Authentik in die Wangen gefurcht ist. Da! Eine Frau im Scheinwerferlicht! Wer ist sie? „Die hat im Club gekellnert.“Ehrfurcht in den Augen der Umherstehenden.
Pico. Das Star-Club-Musical feierte am Donnerstag im Delphi Theater Premiere, wo es bis Ende des Jahres oder gerne auch noch die nächsten 30 Jahre aufgeführt werden soll. Der süddeutsche Moderator und Musiker Daddes Gaiser hat das Musical geschrieben und künstlerisch realisiert, das in Hamburg im Grunde längst überfällig war. Kiez, Nostalgie, Lokalkolorit, Legende und Weltklassemusik – was kann da noch schiefgehen? Natürlich alles.
Die Inszenierung beginnt mit einem Kalauer über Lautsprecher. „Weißt du, was Pico heute macht?“„Der ist Musiker geworden.“„Musiker? Der?“„Ja, Hornist bei der Bundesbahn.“Dann hebt sich der Vorhang, und der Bahnarbeiterbeat beginnt. Pico steht mit seiner Tröte an den Gleisen und nervt die anderen mit zu oft erzählten Anekdoten über die goldenen Star-Club-Zeiten, als er noch Ansager der angesagtesten Bands war. Wieder Vorhang, jetzt dürfen wir alles mit eigenen Ohren erleben.
Pico (Volkan Baydar) alias Salvatore Martens, das Faktotum vom Kiez, hat es wirklich gegeben (und es gibt ihn noch, er saß leibhaftig im Premierenpublikum), doch hat man seine Geschichte ein wenig musicalmäßig aufgepeppt. So kommt Conny (Isabel Varell) dazu, die große Liebe, die originellerweise mit John Lennon durchbrennt. Ansonsten wurde die Geschichte eher musicalmäßig abgepeppt. Was in den Sechzigern an Opposition brodelte, ist im Delphi Zuckerguß. Und Zuckerguß knallt nicht. „Wir gehen“, verabschiedeten sich die Sitznachbarn in der Pause betrogen und triumphierend: „Wir kennen die richtigen Zeiten.“
Pico hat eine schöne Bühne, hübsche Choreographien, anständige Darsteller, angenehm wenig Dialog und fuktioniert trotzdem nicht, weil es zuviel Schlager und zuwenig Beat macht. Selbst die Original-Songs der Sechziger wollen nicht recht grooven – außer in dem wunderbaren Moment, in dem die Rattles, die Gaiser als Live-Band verpflichten konnte, höchstpersönlich auf die Bühne kommen und sich schamlos als rockende Opas outen. Das hat Stil.
Christiane Kühl
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