: Wer ist der Kaiser von China?
■ ...oder wie ich Anthroposoph wurde – Waldorfschülerschaft im Selbstversuch
Da sitze ich neulich mit Hunderten Anthroposophen in einem Saal und höre, wie im Rahmen einer Tagung über „Reinkarnation und Karma“ jemand die naheliegende Frage nach den karmischen Beziehungen zwischen den heute hier Anwesenden stellt – und ich erschauere. Ja, wie bin ich eigentlich in diese Zusammenhänge geraten? Übrigens beweist schon diese Frage, daß ich ihnen tatsächlich angehöre, denn die Wendung „in unseren Zusammenhängen“ kommt unter Anthroposophen so häufig vor, daß es wohl nicht mehr lange dauern wird, bis man nur noch „i.u.Z.“ sagt.
Natürlich sind wieder die Eltern schuld. Ursprünglich waren wir eine ganz normale Familie. Mein Vater ging mit meinem älteren Bruder am Samstag zum Fußball, wir durften fernsehen, Rockmusik hören und Comics lesen, es gab Sonntagmittag unweigerlich Hähnchen und abends Unverdaulichkeiten wie Leberkäse und Stopsel.
Dann wechselte mein Bruder auf die Waldorfschule, wohin ich ihm gleich nach dem Kindergarten folgte. Und alles änderte sich.
Man kann sich diese Erschütterung nicht heftig genug vorstellen. In unserer kindlichen Unschuld hatten wir geglaubt, daß Nudeln a priori hell und pappig seien, und nun erklärte man uns, daß es sich bei diesen gräulichen Gebilden, die unseren Teller verunzierten, auch um welche, und sogar noch bessere, handele. Unser geliebter Hausfreund, Uncle Ben, verließ uns und nahm seinen Reis mit. Der Ersatz klebte natürlich, quoll unmäßig auf und war öfters mit Sand gewürzt. Überhaupt begannen aufgequollene Massen eine bedeutende Rolle in unserer Ernährung zu spielen, und die damit verbundene Bekanntschaft obskurer Gewächse wie Grünkern, Dinkel und Hirse verwirrte unsere auf stabile Verhältnisse angewiesenen Seelen noch mehr.
Auch ein anderes, tiefes Bedürfnis blieb unerfüllt. Kinder sind Gruppenwesen, ziehen ihr ganzes Selbstwertgefühl aus solcher Zugehörigkeit und wünschen sich nichts mehr, als genauso wie alle anderen zu sein und dasselbe zu haben. In dieser Hinsicht ist unser Wirtschaftssystem völlig kindgerecht, indem es sein Äußerstes leistet, um den Mitgliedern einer Alterskohorte ausnahmslos denselben Ramsch anzudrehen.
Uns jedoch wurde das Bürgerrecht der MTV-Nation grausam verwehrt. Kleidung und Spielzeug sollten selbstverständlich so wertvoll und natürlich sein wie unsere Nahrung, und das hieß: nicht trendy. Kaum daß man uns die Zauberwürfel-Manie mitmachen ließ oder ein Stefanel-Sweatshirt gestattete. Die anthroposophische Neigung zur Bildung von Inseln kam hier wieder einmal auf bedenkliche Weise zum Tragen. Der Mangel an Statussymbolen machte es uns nämlich unmöglich, solche als Maßstab dafür zu verwenden, wer „in“ und wer „out“ war, so daß die soziale Fähigkeit, sich selbst und andere über Konsumgüter zu identifizieren, von uns nie erlernt werden konnte – ein heutzutage schweres Defizit!
Schmerzlich mußten wir uns immer wieder als Ausgeschlossene erleben. Das Bekenntnis, man besuche eine Waldorfschule, konnte die Erwiderung nach sich ziehen: „Das ist doch die Schule, wo man immer im Unterricht rausrennt und Kartoffeln vom Acker klaubt.“ (Zutiefst ungerecht. Es war Unkraut!) Häufiger noch bekamen wir zu hören: „Ist das nicht eine Schule für die Kinder reicher Eltern?“ Oder auch: „Ist das nicht eine Schule für Blöde?“ (Also eine Schule für die blöden Kinder reicher Eltern?)
Auch unsere Lehrer gaben uns wiederholt zu verstehen, und zwar vor allem dann, wenn sie uns ein schlechtes Gewissen einreden wollten, daß wir eben auf einer besonderen Schule seien. Schließlich brächte man uns hier Dinge bei, die man sonst nicht ohne weiteres lernen könne. Das war schwer zu bestreiten. Nur waren wir uns nicht immer ganz sicher, ob wir diese Dinge auch gebrauchen könnten. Jedenfalls merkten wir bald, daß man Nichteingeweihten einen Bericht über jene Passagen unseres Geschichtsunterrichts lieber ersparte, in denen es um das wohltätige, wenn auch nachlassende Wirken der Götter in früheren Zeiten der Menschheit ging.
Kurz: Wir gewöhnten uns daran, in zwei verschiedenen Welten zu leben. Davon war – und ist auch noch immer – die eine recht merkwürdig. Aber das Merkwürdigste ist doch, daß sie funktioniert. Es ist hier wie mit der Hummel, die nach allen Regeln der Aerodynamik nicht fliegen können dürfte. Trotzdem tut sie es, und niemand außer Aerodynamikern wundert sich eigentlich. In ähnlicher Weise gewöhnt man sich an Leute, die sich um ihren Ätherleib sorgen und argwöhnen, unerfreuliche Vorgänge in ihrem Umkreis könnten das Werk Ahrimans oder Luzifers sein.
Die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder notierte einmal über Rudolf Steiner: „Das Beisammensein mit ihm erinnert mich an jene Geschichte von dem Besucher einer Irrenanstalt, der durch einen sehr versierten, sehr gescheiten, sehr angenehmen Menschen herumgeführt wird, weshalb er ihn für den Arzt der Anstalt hält. Zum Schluß stellt derselbe ihm noch einen Patienten vor, indem er sagt: ,Die Krankheit dieses Menschen besteht darin, daß er sich für den Kaiser von China hält – und das bin doch ich, wie sie sehen!‘“
Aber wenn Steiner schon der Kaiser von China ist, dann wie in Andersens „Nachtigall“, die mit den Worten beginnt: „In China, mußt Du wissen, ist der Kaiser ein Chinese, und alle seine Hofleute sind auch Chinesen.“ Dieser Satz beruht auf der Voraussetzung, daß man zwar von China gehört hat, aber im Grunde nicht glaubt, daß es wirklich existiert, weil es gar zu weit weg liegt. Genauso ist es mit der geistigen Welt, von der die Anthroposophie spricht.
Die Anthroposophen sind in diesem Sinne Exilanten, deren Herkunft stark bezweifelt wird. Aber in Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit hält man auch dann an seinem Recht auf Heimat fest, wenn vielleicht keine Möglichkeit besteht, es jemals wahrzunehmen. Claudius Klein
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