piwik no script img

Die letzten Marmeladenreste der Armee

■ Viola Stephans Dokumentarfilm „Borowitschi“ ist eine schweigsame Annäherung an romantische russische Landschaften und mißtrauische Menschen

Borowitschi ist eine russische Provinzstadt. Sie liegt auf halbem Wege zwischen Moskau und Petersburg etwas abseits der Hauptstrecke und beherbergt 60.000 Einwohner. Viola Stephan, Regisseurin und Produzentin in Personalunion, hat sich umgesehen an einem Ort, der von allen vergessen scheint. Stephans erstes Bild zeigt einen Grabstein, gewidmet den „deutschen Kriegsgefangenen“. Der Winter steht vor der Tür, die Schönheit der Wälder und Seen um Borowitschi verschlägt einem den Atem wie früher die Gemälde von Caspar David Friedrich, als die Pragmatik noch nicht über die Romantik triumphiert hatte. Doch das erste Bild trügt: Viola Stephans Dokumentarfilm hat nichts zu tun mit dem metaphorisch schönen Herbst eines Rilke oder Friedrich. Borowitschi aber gibt es wirklich – eine dörfliche Zeitfalle, in der sich die Überbleibsel des Sozialismus mit den bescheidenen Anzeichen eines Aufschwungs West mischen.

Auf dem Markt spielt die Blaskapelle zum „50. Siegestag“ über den Hitlerfaschismus. Verwitterte Mütterchen in Kopftüchern präsentieren ihre Orden, dann streift Viola Stephans Kamera über den Markt, wo Blusen im Wind flattern und wieder andere Mütterchen darum beten, daß sich auch alles verkaufen läßt. Die vollkommene Abwesenheit von Kommentaren, die mehr als sparsame Untertitelung und eine Art zeitlupenhaftes Erzählen machen es zunächst schwierig. Was will Viola Stephan mit diesem Film?

Man kapiert es bald, und die Überraschung könnte angenehmer nicht sein: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen. So unbeschreiblich schön das Land, so spektakulär im Überstehen das Leben der Borowitschis. Erwartungsvoll wie im Erlösungsglauben, aber auch mißtrauisch blicken sie der fremden Kamera nach. Um Orte wie diesen kümmert sich niemand, hier stehen die Uhren still. Armeeoffiziere, die niemand mehr braucht, zeigen ihre Vorratskeller, Gurkentöpfe und Marmeladen. Der Chef der örtlichen Miliz ist auch ein passionierter Bärenjäger, wie die Zeitung Roter Funke vermeldet. Für den „50. Siegestag“ registriert der Milizfunk zwei Eigentumsdelikte. In Borowitschi ist man so arm, daß man sich die Vorräte, Seife und Kartoffeln, aus den Kellern stiehlt.

Einer hat es mit einem Kaufhaus zu Wohlstand gebracht. Verlegen zeigt er den Gästen sein neues großes Haus; für das „Freizeitzimmer“ wünscht er sich ein Wandbild mit Pferden. Füllige Gymnasiallehrerinnen mit hochtoupiertem Blond predigen inbrünstig die christlichen Werte der „Heiligen Rus“.

Einer kauft eine alte Fabrik und macht ein Casino draus – Lynchville wartet. Viola Stephans Film endet in einer Filzfabrik; nirgends wird die Regression so deutlich: Gegenwart ist Mittelalter. Dann dampfen dicke Herbstnebel aus den Wiesen, und es wird kalt. Anke Westphal

Ab heute in der „Brotfabrik“; ab 12.6. im „Sputnik Südstern“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen