: Täter, Opfer und Monster
■ Die Hamburger Theater Mafia auf den medialen Spuren eines Kindermörders: Jürgen, Heintje, Morde. Experiment Bartsch im Theater im Zimmer
Als die Illustrierte Stern 1967 eine Umfrage zum Thema „Wer ist der schlimmste Verbrecher des Jahrhunderts?“machte, waren sich die bundesdeutschen Spätwirtschaftswunder-Hausfrauen einig: Jürgen Bartsch. Hitler, Mussolini, und Stalin rangierten mit Abstand. Wer war Jürgen Bartsch?
Bartsch war Adoptivkind, Metzgersohn, Internatsschüler, Ordensschüler, Kirmesgänger, Kindermörder; im Volksmund schlicht „das Monster“. 100 Mordversuche soll er unternommen haben, vier Kinder hat er in eine Höhle gelockt, ermordet und zerstückelt. Bei der ersten Tat war er 15, bei seiner Verhaftung 1967 gerade 19 Jahre alt. Wichtig war ihm dabei stets, rechtzeitig zum Abendbrot zuhause zu sein. In der Höhle stand ein Wecker. Mama war sehr streng.
Was den Regisseur Mario Holetzeck vor einem Jahr daran interessierte, sich mit der Geschichte des Jürgen Bartsch zu beschäftigen, war vor allem die Fülle und Widersprüchlichkeit des Materials über den Fall. 1000 Seiten Gesprächsprotokolle hat er gelesen und den entsprechenden Aufzeichnungen gelauscht; von der Bavaria bekam er Filme des Prozesses und von dem Journalisten Friedhelm Werremeier, der die Geschichte damals exklusiv für Revue und Bild coverte, unzählige Zeitungsartikel und bisher unveröffentlichte Fotos. Sogar Bilder der Obduktion konnte die Hamburger Theatermafia auftreiben, die sich mit Jürgen, Heintje, Morde. Experiment Bartsch zum zweiten Mal dem Hamburger Publikum vorstellt.
„Von Anfang an war das so ein Dualismus“, sagt Holetzeck. „Bartsch erscheint in den Dokumenten abstoßend und eklig, aber gleichzeitig faszinierend. Irgendwann saßen wir dem auf.“Die erste Durchlaufprobe brachte es an den Tag. „Das kann nicht sein – wir mögen Bartsch!“stellte die kleine Produktionscrew fassungslos fest: „Bartsch hat uns gefickt!“Also wurde alles noch mal umgeworfen und radikal gegen die Sympathie gearbeitet. Reale, irreale und dokumentarische Szenen wechseln, brechen mit linearer Erzählung.
Im Mittelpunkt des Projekts steht die Gespaltenheit Bartschs, der nach seiner Verhaftung wiederholt für seine eigene Therapie plädierte und im Knast eine zehnseitige Abhandlung zum Thema „Wie schütze ich mein Kind?“verfaßte. Auf der Bühne von Monika Morsbach spielen Matthias Pantel und Philipp Hochmair die zerrissene Figur. Abwechselnd zitieren sie die von Holetzeck montierten Originaltexte, mal einander ergänzend, meist sich widersprechend. Vexierbildartig springen sie in ihrer Darstellung vom Spiel zum Bericht, brechen Szenen unvermittelt ab, identifizieren und distanzieren sich. Vom Täter, vom Opfer, vom Monster, der seinen Lebensentwurf so klar hatte: „Ich möchte nicht Mann sein, ich möchte nicht Frau sein. Ich will einfach nur Junge sein.“Christiane Kühl
Premiere: Donnerstag, 26. Juni, 20 Uhr, Theater im Zimmer
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