Dilettantin unter Lokalanästhesie

■ Karriere Girls, der neue Film des britischen Regisseurs Mike Leigh, ist ein eindrucksvolles Experiment an lebenden Objekten

Sie sind unendlich empfindlich, zappeln beim Sprechen und bewegen sich fahrig. Ein Leben im Provisorischen verträgt keine heftigen Erschütterungen. Entsprechend unprofessionell sieht es daher aus, wie die beiden mit ihrem Leben umgehen. Regisseur Mike Leigh macht daraus ein quälendes Experiment am lebenden Objekt. Sein Terrain ist ein Universum von Verhaltensweisen, die noch nicht zur bewußtlosen Selbstverständlichkeit geronnen sind. Mit fast schon analytischer Giftigkeit operiert er unter Lokalanästhesie an dem Bild der britischen 80er-Jahre-Jugend, die lieber auf tröstende Lebensweisung der Brontä-Schwestern zurückgreift, als nach dem eigenen Stellenwert im Jetzt zu fahnden. Statt vollmundiger Visionen oder wenigstens weltbewegendem Liebeskummer psychopathologische Selbsterniedrigungen zu Grabesklängen von The Cure. Das paßt zum Stigma dumpfer Traurigkeit jener Jahre, schließlich haben die sozialen Kriege der Maggie Thatcher auch keine Sieger.

Hannah und Annie streiten sich selten, denn dazu fehlt es Annie an nötigem Mitteilungsbedürfnis. Dafür immer wieder Endlosschleifen mal unsicherer, mal hysterischer Konversation. Subtile Kämpfe um gegenseitige Anerkennung. Hannah proletarisch aggressiv, eine alkoholkranke Mutter wie einen Fluch im Nacken, und Annie, mittelständisch und tragisch verklemmt, sind Freundinnen. Sie kennen sich, seitdem Annie in die Londoner Studentinnen-WG einzog. Damals war sie eine transparente Hypermotorikerin mit einem flammendroten Schorffleck im Gesicht, den sie beim Sprechen mit stets gesenktem Blick ihrem Gegenüber entgegenhielt, als gelte es, ihre ganze Verwundbarkeit sicherheitshalber selbst auszustellen, bevor sie ein anderer aufspürt und ausweidet. Defekte, die Leigh bereits in Naked in einer Art Spülbeckenrealismus vorführt. Hannah hingegen versucht mit ihrem erst nervtötenden, später schlagfertigen Mundwerk die Geister ihrer eigenen Einsamkeit zu vertreiben.

Nach sechs Jahren treffen sie sich wieder. Die Dermatitis ist abgeheilt und Hannahs Aggressivität hat sich in abgeklärte Lebenstüchtigkeit verwandelt. Vertrautes Kichern über dampfenden Teetassen, Gespräche über ihre Jobs, Annäherung, Komplimente, Erinnerungen, Rückblenden. Bei den Besichtigungen von Penthouse-Wohnungen, von denen man bei „gutem Wetter den Klassenkampf sehen kann“, konfrontiert der Zufall sie mit einsam oder gemeinsam Begehrten. Und in nachträglicher Solidarität feiert die Mädchenfreundschaft endlich einen rührenden Triumph. Aus den Dilettantinnen sind Lebensprofis geworden. Und die Brontä-Schwestern können hierzu am Ende nur noch ein anerkennendes „Peng!“beisteuern.

Birgit Glombitza

Abaton, Zeise