Öffentlich-rechtliche Tugend

■ Seit Mittwoch sendet Radio Eins und will einzigartig sein. Gassenhauer und wenig Wortbeiträge dominieren tagsüber das Programm. Abends jedoch gute Musik-Specials

Ehrlich gesagt, wir haben gar nicht so genau gewußt, was High Quality ist. Wir wußten, daß wir intelligent sein sollen, um das neue Radio Eins zu hören. Wir wußten, daß wir Musik lieben müssen und das „Gedudel“ der Privatsender hassen. Bei dieser Beschreibung fängt das Radiohören mit Geschmeicheltsein an.

Seit Mittwoch versuchen die öffentlich-rechtlichen Anstalten der Region, ORB und SFB, auf der Frequenz 95,8 MHz (Kabel: 99,95 MHz) der kommerziellen Konkurrenz wieder Hörer abzujagen. Nicht durch Anbiederung, wie man vorweg zu erklären eifrig war, sondern indem man die öffentlich- rechtlichen Tugenden ausspiele. Schließlich: „Die Zukunft des Radios liegt in seiner Vergangenheit“, wie „Radio Eins“-Chef Helmut Lehnert (zuvor verantwortlich für „Fritz“) überall zitiert wurde.

Damit sind wohl in erster Linie die vielen Oldies gemeint. An den ersten beiden Tagen verließ man sich über weite Strecken auf die ganz alten Gassenhauer vom unsäglichen „I am sayling“ bis zu den „Sweet Dreams“ der Eurythmics, dazu eine Menge Elvis. Das schien uns, mit Verlaub, für Berliner Radioverhältnisse keine allzu kühne Idee. Zumal Radio Eins bei den neueren Titeln im Tagesprogramm auf die sichere Bank setzt, REM, Oasis, nun ja. Wo bleiben sie nur, die 20.000 handverlesenen Titel, von denen Musikchef Peter Radszuhn bei der Präsentation schwärmte? Wo bleibt er, der programmatische Mut, mit dem das Objekt einst beim ORB in Angriff genommen wurde? Dann haben wir auf die Wortbeiträge gewartet. Wir haben lange gewartet, denn allzu viele sind es nicht. Sie werden in der Frühsendung mit liebloser Beliebigkeit nach jeweils drei Musiktiteln gestreut, bislang ging es um Hausbesetzer in Potsdam und einen Kongreß für Computerspracherkennung. Gestern erkor man den Streit der Bezirksversammlungen von Schöneberg und Tiergarten um die Benennung eines Marlene-Dietrich-Platzes zum Schwerpunktthema. Möglicherweise hat diese Themenauswahl mit einer Vorgabe für die Frühthemen zu tun, von der berichtet wird: Angeblich soll es nur um Dinge gehen, die mit uns High-Quality-Hörern in Berlin und Brandenburg unmittelbar etwas zu tun haben. Weltpolitik wäre da also schon mal tabu. Wie sich eine derart provinzielle Strategie, sollte es sie geben, mit Intelligenz und Urbanität verträgt, konnten wir uns nicht erklären. Möglicherweise interessieren die Bezirkshändel schon in der Metropole Perleberg so sehr wie uns der dortige Stadtrat.

Dabei hätte Radio Eins das Potential: Der „Auftakt“ beim Vorgänger Radio Brandenburg konnte mit bestimmten Moderatoren das interessanteste Frühprogramm der Region sein. Ulf Kalkreuths Interviews beispielsweise waren informativ, intelligent und unterhaltsam. Also so, wie Radio Eins sein will. Jetzt müssen wir dem Mann dabei zuhören, wie er sich durch Witzchen und aufgeschriebene Moderationen quält.

Wenn der Tag geht, wird Radio Eins übrigens besser. Daß noch keiner darauf gekommen ist, ein Kultur-Informationsmagazin am Abend zu bringen, wie Radio Eins es tut... Und vorgestern abend um elf lohnte sich das Einschalten schon, um dem auf- und anschwellenden Singsang der Rockjournalismus-Legende Alan Bangs zu folgen. Auch die Musik-Specials zwischen sieben und neun am Abend klingen vielversprechend. Mal sehen, vielleicht lernen wir ja noch, was High Quality wirklich heißt. Lutz Meier