: Geträumte Lesung, Milchkaffee, Frankfurt Von Jürgen Roth
Neulich hatte ich unverständlicherweise zuviel getrunken. Am nächsten Tag suchte ich zur Wiederherstellung überlebensnotwendiger neurologischer Kapazitäten eines der raren Frankfurter Cafés auf. Ich bestellte und trank zwei von fortschrittlichen Kreisen zu Recht verachtete großtassige Milchkaffees. Dabei fiel mir auf, daß in jenen seltenen Frankfurter Kaffeehäusern, die einen Besuch gerechtfertigt erscheinen lassen, immer dasselbe aus dem Ruder gelaufene und mit den Segnungen der Sprache äußerst sparsam verfahrende Subjekt seinen gewiß wenig erfreulichen Milchkaffee-Bringedienst verrichtet. Eine Tücke des aktuellen Weltgeistes? Ein wahnhaftes Menetekel? Ein Tagtraum gar?
Was weiß ich. Wissen will ich viel eher, warum mir kürzlich träumte, Kollege Rudolf und ich seien nach der abbruchreifen Heldenstadt Leipzig gereist, um lustige Texte über Biersaufen vorzutragen. Das Auditorium war wie verabredet erschienen. Volle Bude. Natürlich hatten wir im Vorfeld nachdrücklich „getankt“. Als die „Uhr“ (Rudolf) kurz vor acht zeigte, schritten wir zur Tat.
Die kreisrunde Bühne stand inmitten des Raumes. Drumherum saßen artig etwa 400 Zuhörer. Mikrophone baumelten 0,7 Meter von der Decke herab. Rudolf griff umherliegende Papierstöße und verschwand Richtung Toilette. Ich begann, auf einem rotierenden Hocker festgezurrt, mit vier Zweizeilern. Unterm Tisch lagerten palettenweise Manuskripte, die sämtlich dargebracht sein wollten. Auf Oden ließ ich Traktate und Flaschenetiketten folgen, brachte aber kein einziges Stück vollständig über die Lippen. Sie schienen, sobald ein Textende nahte, wie verhext und zugenäht. Es war als ob verflixt. Das Publikum schwieg in abgründiger Demut vor meiner Rezitationsartistik. Blechern kullerte Rudolfs Lachen aus eisiger Ferne durch den gewölbten Saal.
Dann erschien er plötzlich mit etwa zehn Ledertaschen und deklamierte freihändig Textmaterial, welchem jegliche Überleitung fehlte. Ich begann, dem erstbesten Ranzen mehrere Videokassetten zu entnehmen, von denen ich anschließend Rudolfs Ost-Biographie ablas. Nach drei Stunden unterbrach ich dieses Unterfangen. Menschen lachten jäh auf, erhoben sich und legten beim Hinausgehen ihre mitgebrachte Literatur auf den Büchertisch. Es war mehrheitlich ein Titel, den ich gut kannte. Kein besonders aufrüttelnder Traum; doch was will er sagen? „Träume – Das Tor zur Seele“ resp. „Träume – Spiegel der Seele“ heißt eine von Bild gestartete Serie, die in der Bildwoche ihre Fortsetzung finden wird. „Die haben alle blutigen Schaum vor dem Mund. Was hat das zu bedeuten?“ fragt am 15. Februar Eleonore Michen aus Mönchengladbach und erhielt die Antwort: „Helft mir, ich fühl' mich im Stich gelassen.“ Und da fühle ich mit: als lesender loser, der verbotenerweise Milchkaffee in dünn gesäten Frankfurter Gaststätten schlürft, wo eine vom Fatum gesandte Bedienung das nämliche Getränk unter Ausstoß der words (Worte) „Dreikommacht“ abzukassieren beliebt.
Mit Sicherheit hängt alles irgendwie im Unterbewußtsein mit allem anderen zusammen. Bloß wieso? Ich würde es verraten, wenn ich könnte, doch der Artikel ist hier zu Ende. Auf eine Pointe muß verzichtet werden.
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