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Langer Abschied vom Neuen Menschen

■ „Leben unter Roten Fahnen“: Ein Dokumentarfilm über politische Veränderungen und Lebensläufe (22.30 Uhr, MDR / 21.30 Uhr, HR)

Die Dokumentaristin Inga Wolfram, Kennerin der russischen beziehungsweise ehemals sowjetischen Verhältnisse, hat sich mit ihrem neuen Film „Leben unter Roten Fahnen“ ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: zu zeigen, wie Aufstieg und Niedergang des sowjetischen Imperiums sich in Lebensschicksalen niedergeschlagen haben.

Kernstück des Films sind Interviews mit vier gänzlich unterschiedlichen Menschen, die allerdings eines gemeinsam haben: Sie entsprechen nicht dem Typ des Homo sovieticus, der sich unterm Ancien régime leidlich einrichtete und jetzt die psychische Bürde dieser Anpassung nicht abwerfen kann. So erleben wir den Fürsten Surab Tschartscharadze und seine Frau Lena, einen Sproß des russisch-georgischen Hochadels, dessen Vater leichtsinnig genug war, nach dem Sieg über Hitler- Deutschland mit seiner Familie „in die Heimat“ zurückzukehren. Tschartscharadze ist vom mythischen Glauben an Rußland und seine Leidensmission durchdrungen. Zu Sowjetzeiten Außenseiter, verkörpert er heute einen wichtigen Intelligenzija-Typus. Westlich gebildet, aber mit Reserven gegenüber der „Westorientierung“.

Der Schauspieler Georgi Shshonov dagegen, einst glühender Komsomolze, viele Jahre als Opfer der Sippenhaft im Gulag, ist ein Mensch ohne Bitterkeit, dessen Hoffnungen auf ein bißchen Normalität für Rußland allerdings „schrumpfen wie Chagrin-Leder“. Shshonov kommt von der Vergangenheit nicht los. Er hat – unwissentlich – seine Datscha auf dem Grund eines ehemaligen Häftlingslagers gebaut.

Der Jungunternehmer Vadim Raskovalov hat mit dem Import von Südfrüchten und Gemüse Millionen verdient. Im niedergehenden Realsozialismus lernte er seine Geschichtslektionen in der Schule auswendig wie mathematische Sätze. Er bezeichnet sich als neuen „russischen Menschen“. Aber auch er sieht sich in einer Minderheitsposition und glaubt, der Untertanengeist stecke der Masse seiner Landsleute zu tief in den Knochen. Raskovalov sagt, er könne überall leben und zurechtkommen, in Europa oder in Afrika.

Inga Wolfram geht mit ihren Interviewpartnern kongenial um. Das kann leider nicht in gleicher Weise von dem historischen Material behauptet werden, das sie vor uns ausbreitet. Die angesprochenen Fragen, „Warum haben wir an den Kommunismus geglaubt“?, „Wie konnten wir so leben“?, „Gab es eine Alternative?“ sind so schwierig und vielschichtig, daß sie an Hand des unentwegt niederprasselnden Filmmaterials überhaupt nicht bearbeitet werden können. Sei' s drum. Sie hat uns bei ein paar interessanten Leuten eingeführt. Christian Semler

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