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Kegelclubs auf der Baustelle

■ Entgegen früheren Prognosen boomt der Berlin-Tourismus. Die Mauer hat als Publikumsmagnet eine attraktive Nachfolgerin gefunden: die rote Infobox am Potsdamer Platz. Auch mehr Geschäftsreisende

Wenigstens einer hat auch an sie gedacht: „Wer will fleißige Arbeiter sehen, der muß zum Potsdamer Platz gehen“, hat ein nicht namentlich genannter Mensch seine dichterischen Fähigkeiten ausgelebt. Ansonsten nur Lobhudelei: „Die Infobox ist super“ und „Berlin ist der Wahnsinn“. So manch einer hat seine drei Sätze Schuldeutsch zusammengekratzt, um sich im Gästebuch der Infobox zu verewigen; andere haben es bei japanischen Schriftzeichen belassen.

Auf dem Potsdamer Platz herrscht auch an diesigen Novembernachmittagen Hochbetrieb. Der dreimillionste Besucher hat die rote Box auf Stelzen längst wieder verlassen; und immer noch bringt es Berlins jüngstes Wahrzeichen am Wochenende auf 10.000 und unter der Woche auf 3.000 bis 5.000 Besucher pro Tag. „Stundenlang können wir mit den Leuten über Baulogistik reden“, schwärmt Infobox-Mitarbeiter Karl-Heinz Pätznick über das architekturbegeisterte Publikum hier oben. Pätznick ist sozusagen selbst eine fleischgewordene Infobox, und nach Feierabend erstellt er auch schon mal die ein oder andere Berlin-Broschüre für die Besucher. Hier oben ist er, so meint er, der Geschichte näher als die meisten anderen in der Stadt – vor allem, wenn, wie vergangene Woche, ein 91jähriger Amerikaner durch die Tür tritt. „Der Mann war hier aufgewachsen. Aber auch gar nichts hat er wiedererkannt. Das sind schon Momente, die einem nahegehen.“

Pätznick ist nur einer von 40.000, die inzwischen in Berlin an der Tourismusindustrie verdienen. Die Branche boomt: Unkten böse Zungen vor zwei Jahren noch, angesichts der vielen stadtplanerischen Fehlschläge sei es ja auch kein Wunder, daß keiner komme, müssen die Skeptiker jetzt einsehen, daß die Außensicht offensichtlich eine andere ist. Allein von Januar bis August dieses Jahres kamen über 2,2 Millionen Besucher in die Stadt, acht Prozent mehr als 1996. Weit über die Hälfte waren Deutsche, gefolgt von US- Amerikanern, Engländern, Italienern und Niederländern. Der durchschnittliche Berlin-Besucher ist 2,4 Tage in der Stadt und gibt in dieser Zeit 720 Mark aus – summiert sind das immerhin 1,9 Milliarden Mark, die das Herz von Finanzsenatorin Fugmann-Heesing höher schlagen lassen dürften. Längst hat Berlin als beliebtestes deutsches Touristenziel Hamburg und München weit hinter sich gelassen.

Angesichts von so viel Beliebtheit gibt man sich auch in der Berliner Tourismus Marketing GmbH (BTM) aufgeräumt. „Das neue Gesicht der Stadt zieht die Leute an“, so Bernd Buhmann, „sie wollen dabeisein, sehen, was hier entsteht. Und die Zeit der Löcher und Baggerseen ist ja zum Glück vorbei.“ Tatsächlich ist Baustellentourismus die Attraktion Nummer eins: Die von Berlinern herzlich verlachten Veranstaltungen der „Schaustelle Berlin“ sind genauso ein Renner wie die Baustellen selber – und eben die Infobox, die im Begriff ist, dem Brandenburger Tor auf der Skala der Beliebtheit den Rang abzulaufen. Dabei kommen nicht nur die Busse voller Städtereisender, Kegelclubs und Klassenfahrten angerollt: Geschätzte 50 Prozent sind Geschäftsreisende. Die meisten von ihnen zieht es zunächst in den tiefen Westen der Stadt: Mit über einer halben Million besuchten 1996 über 50 Prozent mehr Fachbesucher die Messe Berlin als noch 1994. Allein im vergangenen Jahr wurden 16 neue Messen veranstaltet. In diesem Jahr fanden erstmals so illustre Veranstaltungen wie die „Pizzatec“ und die „Häusliche Pflege 97“ statt. Außerdem entwickelt sich das ICC zur Topadresse für medizinische Megakongresse – etwa den Deutschen Krebskongreß oder den Europäischen Kinderärztetag. Und: 73 Konzerne hielten hier 1996 ihre Versammlungen ab.

So richtig glücklich kann man aus touristischer Sicht mit der Hauptstadtentwicklung aber noch lange nicht sein: Bernd Buhmann beklagt vor allem die Öffnungszeiten. Denn was ist schon ein Wochenendbesuch, bei dem man nicht samstags vormittags auf dem Ku'damm, nachmittags rund um den Alex und sonntags in der Friedrichstraße shoppen gehen kann? Und auch die Hotel- und Gaststätteninnung sieht schon seit Jahren ihre Felle davonschwimmen: Zwar freut man sich über „Kardiologenkongresse und darüber, daß der 3. Oktober ein Freitag war“. Auf den Umsatz, so Sprecherin Heike Wille, habe sich das aber kaum ausgewirkt. Waren 1991 noch im Durchschnitt 60 Prozent der Betten vermietet, sind es inzwischen nur noch knapp über 40 Prozent. Deshalb, so Wille, „müssen 5-Sterne-Hotels inzwischen ihre Zimmer für zweihundert statt für fünfhundert Mark vermieten.“ Das liegt allerdings vor allem daran, daß immer noch neue Hotels eröffnet werden.

46.000 Betten gibt es bereits. Und bis zur Jahrtausendwende kommt ein Drittel dazu. Nur wer billig übernachten möchte, gibt am besten immer noch eine Kleinanzeige auf. Jeannette Goddar

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