Die Ideologie vom unwerten Leben

„Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung“: 1920 formulierte der emeritierte Juraprofessor Karl Binding diese Sätze in dem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form“. Der Jurist sah „weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus“ einen „Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden“, nicht „freizugeben“.

Karl Binding war kein Außenseiter, sondern ein angesehener Wissenschaftler. Seine Publikation wurde auflagenstark verkauft. Denn es gab eine große Leserschaft, die darin formuliert fand, was sie ohnehin dachte. Dazu gehört, was der seinerzeitige Mitherausgeber der Schrift, der Psychiatrieprofessor Alfred Hoche, beitrug, um die Grenzen christlich-humanistischer Ethik vollends zu verwischen: Aus dem „inneren Zustand der geistig Toten“ ergebe sich „ohne weiteres, daß es falsch ist, ihnen gegenüber den Gesichtspunkt des Mitleids geltend zu machen“. Es sei die „geistig Toten gegenüber im Leben und im Sterbensfall die an letzter Stelle angebrachte Gefühlsregung“.

Die Mediziner und ihre Helfer, die sich an der Vernichtungsaktion gegen psychisch Kranke beteiligten, handelten ihren eigenen Legenden zum Trotz nicht gegen ihre Überzeugung. Ihr Menschenbild war von wissenschaftlichen Denkrichtungen geformt, die im vorigen Jahrhundert wurzeln. Psychische und soziale Ursachen von Krankheit spielten darin allenfalls Nebenrollen. Die Sicht auf den Menschen war ingenieurhaft, der Mensch selbst galt als naturwissenschaftlich unzuverlässiges Produkt der Natur – überleben könne und dürfe also nur, wer stark und makellos ist.

Nicht alle diese Ideen entstanden in Deutschland, aber hier verbanden sie sich zu einem gefährlichen Gemisch. Dazu trugen „Rassenhygieniker“ bei, die schon kurz nach der Jahrhundertwende mit einer Sterilisierung der „rassisch weniger wertvollen Elementen“ dem Geburtenüberschuß begegnen wollten. Es mischten auch Sozialdarwinisten mit, die – vereinfacht gesagt – Darwins Lehre von der Entstehung der Arten direkt auf die menschliche Gesellschaft übertrugen. Zu nennen sind auch die Vertreter einer Rassenanthropologie, die das „Primat der arischen-germanischen Rasse“ entdeckt haben wollten.

Die ökonomische Krisensituation ausgangs der zwanziger Jahre verschärfte den sozialen Verteilungskampf, selbst von Wohlfahrtsverbänden wurden die Kosten für die Betreuung von unheilbar Kranken zur Diskussion gestellt. Auch Angehörige der Kirchen, insbesondere der (evangelischen) „Inneren Mission“, waren bereit, gewisse, von Staats wegen verordnete eugenische Mittel als Dienst an der Schöpfung zu deuten. Die in den verschiedensten Ämtern und Institutionen wirkenden Exekutoren ließen solchen Überlegungen die praktischen Konsequenzen folgen. Eine davon war die massenhafte Ermordung von PatientInnen aus psychiatrischen Einrichtungen. hjl