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London in der Nacht

■ Neu im Kino: Ein melancholisches Porträt der Metropole von Patrick Keiller

„Wer von London genug hat, hat vom Leben genug“, sagte einst Dr. Samuel Johnson, und die englische Touristenwerbung zitiert ihn oft und gerne. Patrick Keiller drehte nun mit seinem Filmessay alles andere als einen Werbefilm für die Metropole. Und so nahm er sich als Stadtführer den unsichtbar bleibenden Robinson, auf den sich der ebenfalls fiktive Erzähler des Films immer wieder bezieht – einen Miesepeter, der eindeutig genug von London und wohl auch vom Leben hat. „Dies ist eine Reise zum Ende der Welt“ sind die ersten Worte des Films, und weil er so übertrieben pessimistisch beginnt, nimmt man den Text des Films von Anfang an nicht ganz für bare Münze. Da spricht ein Exzentriker, ein typisch englischer Snob mit einem extrem kultivierten Oxford-Akzent, und allein schon sein Tonfall macht den Film zu einem Vergnügen. Sein Seelenverwandter Robinson umarmt einen ihm völlig Fremden in einem Einkaufszentrum, nur weil dieser ein Buch von Benjamin liest. Er erklärt kurzerhand ganz London zu einem Monument für Rimbeaud. Die Bus-Linie 15 ist für ihn eine „heilige Buslinie“, und er erklärt streng logisch, warum er wegen des Wahlsiegs von John Major im Jahr 1992 früher sterben wird.

Im strengen Kontrast zu diesen Texten sind die Bilder des Films: nur Totalen ohne Schwenks, Fahrten oder Zooms, alles so statisch wie nur möglich, alles so desolat wie notwendig, manchmal aber melancholisch schönes; viele Trümmern und Polizeiabsperrungen nach den Bombenanschlägen der IRA von '92, viele Straßenszenen mit Londonern, die sich wie Zombies bewegen, viel häßliche, protzige, moderne Architektur; aber auch eine ganze Anzahl von Statuen berühmter Londonbesucher, idyllische Nischen in den ländlichen Vororten, eine Parade von Beefeatern und kurze Schnappschüsse von der Queen und der Queen-Mother.

Alles, was man sieht ist wirklich da; alles was man hört geht darüber hinaus. Keiller arbeitet hier im Grenzland zwischen Dokumentation und Fiktion und spielt gerne mit den Diskrepanzen. So wird Baudelaires Definition von Romantik zitiert, und dazu sieht man ein McDonalds- Restaurant; dramatische Musik aus einem alten englischen Film wird zu Bildern von leeren, tristen Straßenszenen gespielt.

Die „Geschichte“ des Films folgt dem Erzähler und seinem Freund Robinson auf drei Expeditionen durch London und seine Umgebung, die zu den Ursprüngen der englischen Romantik führen sollen. Ihr Blick ist dabei fast ausschließlich in die Vergangenheit gewandt, sie wollen etwa unbedingt in dem Hotelzimmer übernachten, in dem Apollinaire angeblich eine zeitlang gastiert hat. Aber ihre historische Reiseroute wird immer wieder durch die Unbill des heutigen Londons umgelenkt: Verkehr, Absperrungen, abgerissene historische Stätten – die beiden müßen sich wohl oder übel mit dem London von 1992 abplagen, aber dabei kommen ihnen pointiert böse,Kommentare ihrer längst verstorbenen Helden von deren Londonreisen genau passend in den Sinn. Man kann Keillers Methode kalkulierter Antagonismen noch am ehesten mit den Büchern von W. G. Sebald vergleichen. Dieser Österreicher lebt wohl nicht umsonst seit vielen Jahren in England und beschwört besonders in „Die Ringe des Saturn“ eine ganz ähnliche Grundstimmung herauf wie Keiller in „London“. Beide können vom Untergang mit einer attraktiven Schwermut erzählen. So würde man gerne noch stundenlang das Elend der Welt aufschlürfen.

Wilfried Hippen

Kino 46, So.,Mo.,Di. 20.30 Uhr / Originalfassung mit Untertiteln

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