: In den Untiefen der Ichbezogenheit
■ Der Choreograph Josef Tmim zeigt mit seiner toladá dance company Skizzen von Angst und Einsamkeit im Theater am Halleschen Ufer
Löffel fliegen durch die Luft, Hunderte von Löffeln. Vier Frauen und ein Mann schaufeln das Blechbesteck aus Kisten und Eimern, wischen es von zuvor gedeckten Tischen, schleudern es mit beiden Armen hoch. Das hat etwas von Randale im Kinderheim, Familienaufruhr, Gefängnisrevolte – von Ärger überall dort, wo die Subordination des einzelnen unter die Tischsitten beginnt.
Im neuen Stück des Choreographen Joseph Tmim ist die Bühne mit Tischen und Stühlen vollgestellt wie ein unaufgeräumter Gemeindesaal. Gemeinsamkeit ist hier das stets verfehlte Ziel; Einsamkeit hält die Figuren in ihren Krallen. Wo sie sich zu Gruppenritualen um den runden Tisch treffen, mutiert der gesittete Umgang mit Messer und Gabel bald zu kanibalistischen Attacken.
Diese Szenen des Ausrastens sind eingebettet in eine müde Traurigkeit. Blaues Nachtlicht, nostalgische Tanzmusik, Regenrauschen: Wir befinden uns irgendwo, wo das Leben nur noch von den Erinnerungen zehrt. Wir hören Gebrauchsanweisungen über den Selbstmord und das Glücksspiel, als ob es keine verbindlichen Regeln mehr für das Zusammenleben gäbe. Ganz selten sind die Momente von Berührung, in denen die Figuren sich halten und in der Körperwärme des andern Schutz finden. In ihren Tänzen mit tief über den Boden wischenden Drehungen spinnen sie sich ein wie in einen Kokon und widerstehen nur mühsam der Verführung, sich einfach fallenzulassen und zu schlafen.
Doch zwischen den routiniert choreographierten Sequenzen scheint Tmim seine junge company, von der nur Liat Shinar Ogden schon beim letzten Stück dabei war, in der Erfindung ihrer Charaktere etwas sich selbst überlassen zu haben. Sie tasten die Außenseite von Alter und Wahnsinn ab: den Bruch mit der Außenwelt, das Eintrocknen der Wahrnehmung, den Sturz in die Ichbezogenheit. Doch bleiben dies Skizzen ohne Geschichte, mehr aus jugendlicher Koketterie mit den großen Fragen der Existenz denn aus Erfahrung gespeist. Katrin Bettina Müller
Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32, bis 25.10., 21 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen