: Im Ärzte-Dschungel
■ Was tun, wenn sich der Arzt bei Diagnose oder Therapie geirrt hat? Für geschädigte Patienten ist es sehr schwer, Schadenersatz zu erhalten
Irgendwann reichte es ihr. Jane K. wollte nicht mehr die kleine niedliche Blondine mit Goldlöckchen sein, zu der Lispeln wie angegossen paßt. Ein Kieferorthopäde diagnostizierte, daß bei dem großen offenen Biß der 22jährigen auch eine Spange ihren S-Fehler nicht mehr beheben könne. Jane suchte daraufhin eine private Zahnklinik in Berlin auf. Die auf Kiefer- und Gesichtschirugie spezialisierten und in einer GmbH organisierten Zahnärzte rieten ihr zu einer Operation, bei der der untere Kiefer noch vorne verschoben werden sollte. Dadurch würde ihre Gesichtsform auch schöner werden, und das sei doch sicherlich der wirkliche Grund, warum sie etwas gegen ihren offenen Biß tun wolle, unerstellte ihr ein Arzt.
Jane K. war ein solch schwerwiegender Eingriff aber suspekt, und sie konsultierte mehrere andere Kieferexperten. Nach einem wochenlangen Potpourri-Ritt von einer Zahnarztpraxis zur nächsten warnte sie eine engagierte Ärztin schließlich eindringlich vor einer Operation und den Praktiken der privaten Zahnklinik. Jetzt wird Jane doch zu einer Logopädin gehen, wo sie in einem langwierigen Sprachtraining lernen soll, richtig mit der Zungenspitze an die Vorderzähne anzustoßen.
So wie Jane fühlen sich viele in dem undurchsichtigen Gestrüpp von Fachärzten und Spezialisten verloren. Zumal das durch die Gesundheitsreform eingeführte hochkomplizierte Honorarsystem Ärzte dazu verleitet, nicht mit ihren Kollegen zu kooperieren: denn für den Arzt rechnet es sich mehr, den Patienten bei sich zu behalten und mit ihm möglichst viele abrechnungsrelevante „Punkte“ zu sammeln. Deshalb dürfe es für einen Arzt keinerlei finanzielle Vorteile mehr geben, alleine zu arbeiten, sagen viele Experten.
Der in Deutschland geltende Grundsatz der freien Arztwahl sei zwar sinnvoll, heißt es unisono, gleichwohl brauche der Patient eine koordinierende Instanz, die ihn durch den unübersichtlichen Dschungel des medizinischen Angebots leite. Dies müßte sinnvollerweise der Hausarzt sein. Die neue rot-grüne Regierung will daher auch die Rolle des Hausarztes als Schnittstelle zwischen Krankenhaus und Fachärzten stärken.
Doch was tun, wenn man das Gefühl hat, daß der der Arzt des Vertrauens einen falsch behandelt? Wer garantiert, daß die von ihm gewählte Therapie die richtige ist, und was kann man tun, wenn der Arzt sich bei Diagnose oder Behandlung geirrt hat? Was ist, wenn sich die Krankheit verschlimmert und womöglich bleibende Gesundheitsschäden die Folge sind, fragen sich Patienten.
Derzeit gibt es keine strengen Qualitätskontrollen für Ärzte, und für Patienten ist es selbst bei offensichtlichen Behandlungsfehlern schwer, ihre Schadenersatz -oder Schmerzensgeldforderungen durchzusetzen. Die Krankenkassen helfen ihren Versicherten bei Regreßansprüchen bislang kaum. Nach Schätzungen aus den 90er Jahren kommt es immerhin bis zu 30.000 Schadensmeldungen pro Jahr. Doch die wenigsten werden vor Gericht getragen: Arzthaftungsexperten schätzen, daß 90 Prozent der Schadensfälle außergerichtlich geklärt werden, zum Teil in den Schlichtungskommissionen der Ärztekammern, aber überwiegend unterderhand. Denn die rechtlichen Hürden für die Patienten, Schadenersatz zu erhalten, sind hoch; der Nachweis, der Arzt habe fahrlässig einen Fehler begangen, ist meist nur sehr schwer zu erbringen.
Der Verband demokratischer Ärzte und Ärztinnen (VDÄÄ) schlägt daher vor, eine unabhängige Patientenberatung aufzubauen und anbieterunabhängige Schlichtungsstellen als Alternative zu den ausschließlich mit Ärztevertetern besetzten Kommissionen der Ärztekammern einzurichten. „Die Kommissionen müßten auf kommunaler Ebene entstehen und mit Personen aus Patienten- und Selbsthilfegruppen, Gewerkschaften und Kirchen besetzt werden“, fordert Winfried Beck, 1. Vorsitzender des VDÄÄ. Außerdem sollte ein von Krankenkassen und Ärtzeschaft finanzierter Fonds eingerichtet werden, aus dem Patienten schon bei Verdacht auf Behandlungsfehler vorläufig entschädigt werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) der Patientenstellen hat Leitlinien für ein Patientenschutzgesetz formuliert (siehe Kasten rechts). Nach der bisher geltenden Rechtslage dürfen die sechs existierenden regionalen Patientenstellen nicht einmal individuelle Rechtsberatungen durchführen. In Anlehnung an Regelungen in Skandinavien und den Niederlanden wollen die Patientenstellen nun die rechtliche Lage der Patienten und die Kooperation mit dem behandelnden Arzt verbessern, Qualitätskriterien und Zertifizierungen für Ärzte einführen und regionale, unabhängige Patientenstellen einrichten. „Unsere Leitlinien sind ein Diskussionsentwurf, um ein lange überfälliges Patientenschutzgesetz auf den Weg zu bringen“, sagt Günter Hölling von der BAG. Ole Schulz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen