: Grandioser Holzschnitt
■ Mit der kafkaesken Tragikomödie „Unter der Gürtellinie“ gelingt Regisseur Clemens Bechtel eine sehenswerte Inszenierung
Als Collegestudent jobbte der US-Amerikaner Richard Dresser während der Semesterferien in einer Spielzeugfabrik. Acht Stunden am Tag bediente er an einer Maschine, die weiße Plastikplättchen ausspuckte. Gleich am ersten Tag fragte der neugierige Dresser den Vorarbeiter, wie die Maschine auszuschalten sei und welchem Zweck die von ihm produzierten Plastikplättchen eigentlich dienten. Niemals, egal was passiert, dürfe die Maschine ausgeschaltet werden, antwortet ihm der Vorarbeiter. Und außerdem solle er nicht so neugierig sein.
Wird aus dem Collegestudenten schließlich ein erfolgreicher Bühnen- und Fernsehdrehbuchautor, bleiben solche kafkaesken Erfahrungen natürlich nicht lange unbearbeitet. Dressers Tragikomödie „Unter der Gürtellinie“, die in der Inszenierung von Clemens Bechtel im Brauhauskeller seine Premiere feierte, ist ein grotesker Abgesang auf den Kapitalismus und eine schonungslose Zurschaustellung jener menschlichen Deformationen, die ein Leben in einem solchen System hervorbringt.
Die Geschichte beginnt mit der Ankunft eines Unschuldigen. Der Inspektor Dobbitt (Uwe Kramer) wird in ein namenloses Wüstenland versetzt, wo er gemeinsam mit dem Kollegen Hanrahan (Robert Tillian) und ihrem Chef Merkin (Thomas Ziesch) die Herstellung eines namenlosen Produkts in einer namenlosen Firma kontrollieren muss. Hanrahan, mit dem Dobbitt sich das Zimmer teilt, entpuppt sich als zynischer Misanthrop, dessen Gefühlskälte und Mitleidslosigkeit Dobbitts Vorgänger in den Selbstmord getrieben haben. Der aalglatte Karrierist Merkin steht seinem Untergebenen in nichts nach und bemüht sich nach Leibeskräften, Missmut und Zwietracht prächtig gedeihen zu lassen. Dobbitts Versuch, sich in dieser eisigen Atmosphäre als anständiger Mensch zu behaupten, scheitert schließlich an jenen Verhältnissen, die sich für Dramatiker seit Brecht'schen Zeiten nicht geändert zu haben scheinen.
Sonderlich originell kommen Dressers Erkenntnisse nicht daher, dass der Mensch des Menschen Wolf ist und im Kapitalismus letztlich immer die Skrupellosigkeit und nie die Tugend obsiegt. Und auch die holzschnittartig angelegten Charaktere, die sich zur elektronischen Musik von „Kraftwerk“ durch ein nüchtern-mausgraues Bühnenbild (Till Kuhnert) bewegen müssen, vermögen der Geschichte nur selten überraschende Momente abzugewinnen. Dass „Unter der Gürtellinie“ dennoch ein überdurchschnittlich sehenswertes Stück ist, verdankt sich zwei Gründen: einem überragend agierenden Darstellertrio und durchgehend grandiosen Dialogen.
Eine harmlose Szene, in der Dobbitt für seine daheim gebliebene Frau in Hanrahans Anwesenheit ein Gebet aufsagt, verwandelt sich vor den Augen des Publikums innerhalb weniger Augenblicke in ein entsetzliches psychologisches Desaster. Ein kleines Kuchenstück, das Dobbitt Hanrahan zum Zeichen der Freundschaft überreicht, ist Anlass genug, ein ebenso gewaltiges wie groteskes verbales Gemetzel anzuzetteln. Eine harmlose Redewendung, eine nette Höflichkeitsfloskel, banale Sätze wie „ich danke Ihnen für die Hilfe“ oder „Bitte nehmen Sie doch Platz“ provozieren früher oder später ätzende Kritik und unerbittlichen Spott, dem sich die Akteure gnadenlos und unentwegt gegenseitig aussetzen.
Dieser fortwährende emotionale Terrorismus, den Uwe Kramer, Thomas Ziesch und vor allem Robert Tilian mit atemberaubender sprachlicher Präzision und sehr feinem Gespür für den richtigen Ton zu inszenieren wissen, rettet „Unter der Gürtellinie“ davor, schnell als x-ter Aufguss der ewiggleichen (nichtsdestotrotz richtigen!) Kritik kapitalistischer Verhältnisse in Vergessenheit zu geraten. Das, was wir Humanität nennen, besteht aus wenig mehr als einer äußerst dünnen Schicht banaler Höflichkeiten, unspektakulärer Umgangsformen und der unausgesprochenen Konvention, die Schamgrenzen des Gegenübers nicht fortwährend verletzen zu wollen. Fällt diese zivilisatorische Fassade ab, so lehrt uns das Trio auf der Bühne, unterscheiden sich Menschen von Bestien allenfalls durch ihren aufrechten Gang und maßgeschneiderte Anzüge.
Zugegebenermaßen: auch das keine weltbewegend neue Erkenntnis. Aber immerhin doch so verpackt, dass man hernach den Brauhauskeller mit dem Gefühl verlässt, man solle sich seinen Sitznachbarn demnächst doch genauer ansehen. Könnte ja nicht schaden.
Franco Zotta
Weitere Aufführungen: 25. und 26. September sowie 3., 8., 17., 22., 24., 29. u. 30. Oktober jeweils um 20.30 Uhr im Brauhauskeller (Zugang wegen der Baustelle am Schauspielhaus über die Bleicherstraße). Karten gibt es unter Tel.: 365 33 33
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