Bis zum Kollaps

Parkett, das die Welt bedeutet: Percevals „Schlachten!“ im Schauspielhaus  ■ Von Ralf Poerschke

Drei Hammerschläge eröffnen das Spiel, Gong zur ersten Runde von sechsen. Der Thron ist ein Amboss, die Männer tragen Röcke, die Herrschaft ist allein durch Gott legitimiert, die Wahrheit erweist sich im Zweikampf, und die Symmetrie der Figuren auf der Bühne entspricht dem perfekten Gleichmaß der Sprache, die sie zelebrieren. Zwölf Echtzeit-Theaterstunden, 87 historische Shakespeare-Jahre und rund ein halbes Jahrtausend Ideengeschichte später ist alles zerstört, gemordet, aufgefressen, ausgekotzt und wieder heruntergewürgt: die Ordnung, die Menschen, die Sprache. Dass so was von so was kommt, das erzählte der Regisseur Luk Perceval anhand von Tom Lanoyes Rosenkriegs-Neukurzfassung Schlachten! am Sonnabend im Schauspielhaus. Ein gewaltiges ästhetisches Unterfangen, ein einzigartiger Kraftakt von 13 Mitgliedern des Schauspielhaus-Ensembles, ein rauschendes Fest für Theaterconnaisseure.

In Richard Deuxième ist Roland Renner der archaische Fürst, dessen innere Zerrissenheit auch die Welt aus den Fugen geraten lässt: Machtinstinkt versus Lyrik, Herrschen versus Genießen, Würde versus Selbstmitleid, Klugheit versus Wahnsinn, Bisexualität. Es ist die oft schicksalsträchtig dünkende Verknüfpung von Privat- und Staatsangelegenheiten, die gegenseitige Bedingtheit von sexueller und machtpolitischer Disposition, die Perceval von Anfang an einer radikalen Analyse unterwirft. Bernd Grawert als Heinrich 4 behauptet: „Ordnung macht frei“, während hinter seinem Rücken der Transvestit La Falstaff (Renner) mit dem Gemächt von Thronfolger Heinz (Wolfgang Pregler) den „Erlkönig“ nachspielt. Der folgende Generationskonflikt ist frei nach Freud assoziert: Hat der Sohn den Willen des Vater gebrochen, erbricht er sich.

Und bruchlos ohne Pause geht es über zum Fünften Heinrich. Auf die halbdunkle Bühne werden sperrmüllgleich etliche Stühle geschafft, Trommeln, Decken, Krempel und ein Pferd, wo doch Perceval bislang Requisiten als seltene Kostbarkeiten handelte, und Renner und Pregler ziehen sich vor aller Augen um. Und Pregler liefert als Vernichter der Franzosen – eine Karnevals-Armee – auf dem Feld von Azincourt einen vielstimmigen, traumatischen Monolog, mit bierverursachten Rülpsern durchwirkt und immer munter gegen den Text, dessen Pathos so beständig zwischen Wahn und bewusster Ironie oszilliert, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.

Mit Margaretha di Napoli (Nina Kunzendorf) tritt als Femme fatale eine Fremde in den Kosmos England ein, wo die Unmündigkeit von Heinrich VI. (René Dumont) einem intriganten Parlamentarismus Vorschub leistet. Als einziges Bühnenelement verbleibt eine Nebelmaschine, die den weltflüchtigen Heinrich von Jeanne d'Arc träumen lässt, die Marion Breckwoldt als kompletten Trampel gibt. Mit einem klassischen Blutbad endet jener Teil von Schlachten!, der in fünfeinhalb Stunden Netto-Spielzeit in beinahe asketischer Ökonomie der Mittel ein Theater in Reinform bietet, das in dieser Perfektion einsam steht. Und der Bruch mit ebendieser liebevoll aufgebauten Konvention ist so zwangsläufig wie ihre (theater-)historische Notwendigkeit hinlänglich bekannt ist.

Also tritt auf die York-Gang: Rich, George und Eddy the King. Sie kauen ein deutsch-amerikanisches Slang-Kauderwelsch der kunstvollen Art und benehmen sich ekelhaft, sie spielen eine Szene aus Tarantinos Reservoir Dogsnach, und Eddy (Andreas Grothgar) geriert sich als Sailor aus LynchsWild At Heart. Wir befinden uns in den Neunzigern, es wird mit dem Publikum geschäkert, Unterhaltung ist Trumpf, Gewalt ist lustig – und Perceval führt vor, wie schnell sich das im Allgemeinen verbraucht. Und mithin ist Eddy the King nur das Vorspiel für Dirty Rich Modderfocker der Dritte, als welcher der überwältigend großartige Thomas Thieme die Lust am Töten im totalen Kollaps der Sprache widerspiegelt: mit einer Unmittelbarkeit, die schmerzt – bis er selbst stirbt und verstummt.

Tom Lanoye und Luk Perceval weisen mit Schlachten! nicht in die Zukunft des Theaters, sie rekapitulieren und resümieren und kommen an im Heute, ohne Wehmut, ohne Reue – und sie halten den Fortgang offen. An diesem langen Tag im Schauspielhaus haben die Bretter – spiegelblankes und -glattes Parkett – wirklich einmal die Welt bedeutet.

Marathon: 21.11., 5., 12.12, 11 Uhr; 1. Teil: 17., 23.11., 9.12., 19 Uhr; 2. Teil: 18., 24.11., 10.12., 18 Uhr