: Körper, Ehre, Satisfaktion
In der Geschichte des preußischen Militärs setzten sich Rechtsprinzipien nur mühsam gegen Ehrkonzepte durch. Leib und Leben sollten dem Offizier wenig gelten – es sei denn, es ging um den Körper seiner Frau, seiner Mutter oder seiner Tochter. Eine literarische Spurensuche
von MICHAEL OTT
Unter den Worten des Jahres 2000 war eines der seltsamsten das „Ehrenwort“ Helmut Kohls – jenes Wort, das er einigen Förderern seiner Partei darauf gegeben haben will, ihre Namen nicht zu nennen. Kohls Erklärung trat eine Welle von Kritik und Fragen los: Wäre das nicht ein lächerlicher, durchschaubarer Schachzug? Selbst wenn er es tatsächlich gegeben hat – wäre die Berufung auf dieses „Ehrenwort“ in Zeiten des Rechtsstaats nicht ein grotesker Anachronismus?
Vergessen wurde, welchen jahrhundertealten Gegensatz Kohls (zweifellos strategische) Begründung seines Schweigens neu heraufbeschwor: denjenigen zwischen Recht und Ehre. „Ehre“ bildete spätestens seit der frühen Neuzeit einen zentralen Wertbegriff der meisten europäischen Gesellschaften. Durch Ehrenkodices konstituierten sich soziale Gruppen wie der Adel, die Offizierskaste oder auch die Handwerkszünfte; sie begründeten Abgrenzung und inneren Zusammenhalt. Die Ehre bildete ein inoffizielles Neben- oder Subgesetz zum erst langsam sich durchsetzenden staatlichen Recht und sie stand im Zweifelsfall höher als dieses selbst: Die Berufung auf Ehre legitimierte in den Augen ihrer Anhänger sogar eklatante Rechtsbrüche – von der Fehde über Raufhändel bis hin zum zeremonialisierten Duell.
Kohls „Ehrenwort“-Erklärung reaktivierte damit einen Code, der zweifellos anachronistisch ist, insgeheim aber gerade in der Moderne etwas Verführerisches hat: Er birgt die Konnotation der Souveränität. Kohls Verhalten, so verblüffend selbstherrlich es scheinen mochte, war eben gerade dies: selbstherrlich; es verband den Habitus eines absolutistischen Herrschers, der über den Gesetzen steht (weil er sie gibt), mit dem eines Landadligen, der von schnöden Gerichten und grauen Anwälten verfolgt wird, sich aber im heroischen Bewusstsein seines baldigen Endes erhobenen Hauptes über sie hinwegsetzen kann.
Welche Sedimentschichten historischer Bedeutungen lagern noch heute in einem Wort wie dem „Ehrenwort“? Wer eine Antwort sucht, muss die Geschichte kollektiver Imaginationen befragen. Etwa im Bereich der literarischen Fiktionen.
Da findet man am 23. August 1763 in einem Berliner Gasthof einen entlassenen preußischen Major, der auf die Niederschlagung eines Verfahrens gegen ihn und die Auszahlung seiner Forderungen an die Kriegskasse wartet. Stattdessen trifft jedoch seine Verlobte ein. Das thüringische Adelsfräulein will ihn aus Liebe und trotz aller Schulden heiraten. Gerade das aber meint der Offizier unter den gegebenen Umständen nicht mehr tun zu können, Kriegsinvalide und bettelarm, wie er ist, und unter Bestechungsverdacht stehend; vor allem aber sieht er sich durch seinen Dienstherrn „an seiner Ehre gekränkt“.
Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“, das dieses Szenario entwirft, muss als Komödie natürlich trotzdem mit der Heirat enden. Minna spielt dem Verlobten das Märchen vor, sie sei enterbt und von den Verwandten verstoßen worden, wodurch es für ihn nun wieder Ehrensache wird, sie doch zu heiraten; und am Ende trifft auch die Genugtuung durch den König ein, um das „Soldatenglück“ ganz wiederherzustellen.
Ganz so bieder, wie es aussieht, ist diese berühmte deutsche Komödie allerdings nicht. Denn der Konflikt ist ziemlich nahe an der Tragödie gebaut: „Das klingt sehr tragisch“, sagt Minna einmal, und ihre Ironie offenbart mehr, als sie zudeckt. Der Text verhandelt aber noch mehr als den vielleicht tragisch endenden Starrsinn eines „Ehrenmanns“: Symbolisiert in den „Medien“ Ehre und Geld, steht hier auch das Verhältnis von Adelsetikette und bürgerlicher Kultur zur Diskussion; es geht um jene Ehre, die man nicht kaufen kann. Ebenso steht die ambivalente Rolle der Ehre im Absolutismus und für die militärische Disziplinierung auf dem Spiel.
Vor allem aber zeigt Lessing die Codierung der Ehre nach dem Geschlecht und ihre Bindung an den Körper, dessen Verletzung im Krieg Zeichen soldatischer Ehre ist, hier aber zugleich die fehlende Anerkennung des Majors Tellheim symbolisiert. Diese sozuzusagen symbolische Kastration verweist auf einen Zusammenhang, der über die zeitkritische Intention des Textes hinausgeht: Die Beglaubigung der Ehre am und mit dem Körper (im Selbstopfer, im Krieg, im Duell) folgt einer imaginären Logik, in der die Verletzung oder Tötung des „realen“ Körpers einen imaginären Körper reinigt oder erhöht. Die Ordnung der Ehre und ihrer Rituale ist so ein Ort dessen, was in neueren Gendertheorien „performative Erzeugung geschlechtlicher Identität“ heißt: „Man wird“, mit Norman Mailer zu sprechen, „nicht als Mann geboren; man wird zum Mann, indem man in Ehren kleine Schlachten gewinnt.“ Lessings Text zeigt die Funktionslogik und grundlegende Ambivalenz der Ehre, aber auch ihre zentrale Bedeutung für den Habitus der Repräsentanten Preußens schlechthin – der Offiziere und Landadligen.
Es ist kein Wunder, dass eine Generation nach Lessing auch wichtige Vertreter der Berliner Romantik wie Kleist, Arnim und Brentano in ihren Texten Ambivalenzen der Ehre ausbuchstabieren: So missachtet Kleists „Prinz von Homburg“ um der Ehre des Sieges willen einen Befehl des Kurfürsten; um dann, vom Kriegsgericht zur Hinrichtung verurteilt, zuerst aus Todesangst um Begnadigung zu flehen, schließlich aber zum opferwilligen Kriegshelden zu mutieren (und begnadigt zu werden). Unverkennbar kontrastiert auch dieser Text den imaginären und den realen Körper. Schon die Demonstration, dass der „süße und ehrenvolle“ Tod auf dem Schlachtfeld etwas mit realem Tod und Todesangst zu tun haben könnte, war der herrschenden Klasse entschieden zu viel: „Sehen Sie mal!“, fasste Ludwig Robert 1822 die Haltung von Militär und Adel in einem fiktiven Kommentar ironisch zusammen, „in einem militärischen Staate wie Preußen ist es ganz unmöglich, einen Offizier auf das Theater zu bringen, der so wenig point d’honneur im Leibe hat, dass er um sein bisschen Leben bettelt, das würde unseren ganzen Stand ridikülisieren und das geht nicht.“
Arnim andererseits sorgte sich, wie viele der preußischen Reformer, um den Zustand der Armee im Verhältnis zu den ganz anders motivierten französischen Revolutionsheeren, in denen die Zweiklassengesellschaft von Offizieren und Mannschaften tendenziell aufgehoben war. Während er wie Gneisenau für die „Freiheit der Rücken“ – von der entehrenden Prügelstrafe nämlich – plädierte, setzte Brentano der Ehre der kleinen Leute mit seiner „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ ein Denkmal. Auch hier geht es um ein doppeltes Selbstopfer: um das des braven Unteroffiziers Kasper, der sich erschießt, weil er die Schande nicht ertragen kann, dass sein Vater und sein Bruder Diebe sind; und um das Opfer Annerls, die, von einem adligen Verführer geschwängert, das Kind tötet und hingerichtet wird, ohne den Vater zu nennen. Auch hier bildet die Differenz der Geschlechter den Fluchtpunkt einer Ehrenordnung, die nur vordergründig kritisiert wird: Vielmehr geht es um die Anerkennung auch des „Volks“, um die Ablösung der alten, feudal-ständischen Ehre durch eine allgemeine.
Das neunzehnte Jahrhundert ist die Epoche, in der das alte Ehreverständnis neuen Bedeutungen weicht. Es entstehen die Konzepte allgemeiner bürgerlicher und kollektiver nationaler Ehre. Aber es entsteht eben auch jetzt erst die überragende Bedeutung des Geschlechts, die untergründig in beiden Vorstellungen am Werk ist. So bemerkt Arthur Schnitzler, dass selbst notorische Duellgegner im Fall, dass Frauen von der Kränkung betroffen wären, den jeweiligen Ehegatten, Söhnen oder Vätern das Duell gestatten würden. Und prompt bildet sich eine neue Demarkationslinie nach unten, eine unsichtbare Scheidewand, die die „satisfaktionsfähige Gesellschaft“ (Norbert Elias) vom niedrigen Bürgertum, den Arbeitern oder gar dem Subproletariat trennt.
Es bildet sich das soziale Ideal des Reserveoffiziers, dessen „schneidiger“ Habitus und öffentliches Erscheinen in Uniform von der schrittweisen Militarisierung der Köpfe zeugt. Schnitzlers Novelle „Leutnant Gustl“ zeigt in einem suggestiven Bewusstseinsstrom das Innenleben eines solchen vermeintlich beleidigten Ehrenmannes; sie macht die geliehenen Selbstbilder und angstverschwitzten Phantasmen explizit, die sonst im Imaginären verbleiben und genau dadurch wirksam sind.
Wie wirksam sie waren, belegen nicht nur viele andere literarische Texte – vor allem natürlich die großen Romane und Novellen Fontanes –, sondern auch die bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder ausgefochtenen Duelle. Als solches Duell, der nationalen Ehre geschuldet, erschien einigen Zeitgenossen wohl anfangs auch der Erste Weltkrieg. Spätestens in seinen Materialschlachten ging dann aber die Vorstellung unter, die Ehre mit dem Opfer des Körpers beglaubigen zu können. Der durch den Ehrenkodex maßgeblich geprägte Habitus gerade der preußischen Militärs, mit seinen Normen der Disziplin, des heroischen Selbstopfers und unbedingten Gehorsams, lebte allerdings noch einen Weltkrieg weiter.
MICHAEL OTT, Jahrgang 1964, arbeitet als Literaturwissenschaftler an der Universität Münster. Im Frühjahr erscheint von ihm: „Das ungeschriebene Gesetz. Ehre und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur um 1800“, Rombach Verlag, Freiburg i. B.
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