piwik no script img

Ein Idol im Depot

„Ich tauge nicht zum Soldatenberuf“, mutmaßte Gerhard von Scharnhorst – und schuf die Grundlagen für eine soziale Neuordnung der preußischen Armee. Das machte ihn zum Vorbild in Ost und West

von CHRISTIAN SEMLER

Dieser nachdenkliche Herr, aus feinem Carraramarmor gebildet, er hat so gar nichts Kriegerisches. Die linke Hand greift sinnend ans Kinn, die rechte hält – antike Pose – eine Schriftrolle. Kein philosophisches Traktat, sondern ein Schlachtplan. Wir sprechen vom Denkmal des Generals Gerhard von Scharnhorst, des Begründers der preußischen Heeresreform und Mentors des siegreichen Kampfes gegen Napoleon. Zusammen mit seinem marmornen Pendant, dem heute vergessenen General von Bülow, flankierte er einst die Neue Wache Unter den Linden. Ein Ensemble, geschaffen von den beiden Freunden Schinkel und Rauch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand Bülow als Junker im Magazin, Scharnhorst aber überquerte die Linden und stand nun zwischen Staatsoper und Opernpalais direkt an der Straßenfront. Hinter ihm, mit gebührendem Abstand, die bronzenen Generale des Befreiungskriegs. Dieser prominente Platz war Ausdruck realsozialistischer Verehrung. Scharnhorst galt als Kriegsgott der Nationalen Volksarmee der DDR, als Begründer des Volksheers, als Patriot, kurz: als Vorläufer. Im Westen wiederum pries man ihn als den Erfinder des „Staatsbürgers in Uniform“ und einer allgemeinen Wehrpflicht, von der man hoffte, sie würde so heftig begrüßt wie zu Zeiten Scharnhorsts.

Wo dieser Vielgeliebte heute zu sehen ist? Nirgends. Restauriert, vegetiert er im Depot, das Opfer eines Jahre währenden Streits zwischen den Denkmalspflegern, die darauf beharren, das Rauch-Schinkel’sche Ensemble wiederherzustellen, und der Phalanx der Friedensfreunde. Letztere argumentieren, es sei schlechterdings unmöglich, das Antikriegsmonument, das die Neue Wache heute darstellt, mit zwei Generalen einzurahmen. Warum nicht erneut die Linden überqueren? Warum dürfen Bülow und Scharnhorst nicht wieder dort stehen, wo die DDR ihr Idol platziert hatte? Niemand weiß es.

Gedanke und Tat – so wollte Rauch das Verhältnis der beiden marmornen Generale gedeutet wissen. Scharnhorst der Planer, die Generale des Befreiungskriegs die Akteure. Scharnhorst der Aufklärer, die Generale schon im Bann der nationalen Romantik? In der Tat, Scharnhorst war kein Romantiker, kein „Enthusiast“. Bildung war ihm das Entscheidende. Militärische Bildung. Rationale Vorbereitung kraft Analyse und strategische Unterweisung der kämpfenden Truppe: der Generalstab. Ausbildung des Offizierskorps: die Kriegsakademie. Offene, kontrovers geführte Debatten über Strategie und Taktik: die Militärzeitschriften und die Berliner Militärische Gesellschaft. Alles Erfindungen von Scharnhorst, alles Produkte des Zeitalters der Aufklärung. Insofern war Scharnhorst tatsächlich der „enlightened soldier“, als den ihn der amerikanische Militärhistoriker Charles Edward White porträtiert hat.

Scharnhorst formulierte als Erster die Einsicht, nach der der Krieg nicht durch die Tüchtigkeit des Feldherrn entschieden wird, sondern durch die Verhältnisse im Innern der Krieg führenden Staaten. Diese Einsicht hat Scharnhorst früh gewonnen, nach der Niederlage der konterrevolutionären Koalition gegen die französische Republik. In seinem großen, nach dieser Niederlage veröffentlichten Essay formuliert der damalige Artilleriekapitän in hannoverschen Diensten: „Die Quelle des Unglücks, welches die verbundenen Mächte in dem französischen Revolutionskriege betroffen hat, muss tief mit ihren inneren Verhältnissen und denen der französischen Nation verwebt sein.“

Innere Verhältnisse? Das meint zum einen die Konzentration der Befehlsgewalt, die Indienstnahme aller technischen und wissenschaftlichen Ressourcen durch die Revolutionäre. Aber viel wichtiger erschien Scharnhorst die veränderte Bewusstseinlage bei jedem Soldaten der Revolutionsarmee. Scharnhorst war fasziniert von einer Gefechtsweise, die bei den Franzosen an die Stelle der starren Linie, die auf Kommando marschierte, stillstand und feuerte, getreten war: die Tirailleurstaktik beweglicher kleiner Verbände, bei der die Initiative oft dem einzelnen Soldaten zukam. Dieser Soldat, so Scharnhorst, „focht für einen Staat, der diesen Namen verdiente, der die nicht mehr durch Leistung gerechtfertigten Vorrechte gebrochen und an die Stelle der auseinander strebenden lokalen und provinziellen Besonderheiten die Idee des einen unteilbaren Frankreich gesetzt hatte“.

Eine Analyse, die nach den Jakobinern roch. Aber Scharnhorst war keineswegs ein verkappter revolutionärer Demokrat. Er wollte, verstärkt, nachdem er in preußische Dienste getreten und die vernichtende Niederlage gegen Napoleon 1806 miterlebt hatte, die Vorteile der Französischen Revolution im Rahmen des bestehenden Herrschaftssystems. Deshalb schloss er sich der Reformbewegung um Stein und Humboldt an, wurde von 1808 bis 1810 zum Motor der militärischen Reform und „de facto“-Kriegsminister.

Das Programm, das er in wenigen Jahren auf den Weg brachte, konzentrierte sich auf neue soziale Grundlagen für die Armee. Unter den von Friedrich II. geprägten militärischen Verhältnissen bestand das Offizierskorps aus einer privilegierten aristokratischen Gesellschaft. Die Masse der dienstpflichtigen Soldaten setzte sich aus Bauern, der Stadtarmut und aus „Ausländern“ (meist Bürgern anderer deutscher Staaten) zusammen. Es existierte ein umfangreiches System der „Exemptionen“, die Aritokratie als „Stand“ musste ebenso wenig zum Heer wie die Bourgeoisie, das Handwerk, selbst Teile der Fabrikarbeiter. Diese Armee wurde zum Gehorsam gedrillt und durch ein System schwerer Körperstrafen bei der Fahne gehalten.

Scharnhorsts wichtigstes Heilmittel gegen diese Gebrechen bestand in der Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht, der Auswahl der Offiziere nach ihrer Leistung unabhängig von ihrem Stand und einer Ausbildung der Soldaten, die den Exerzierdrill ebenso abschaffte wie den erzwungenen „Kadavergehorsam“. Die Abschaffung der Körperstrafen, die „Freiheit der Rücken“, bildete den Anfang. Wie aber sollte die Wehrpflicht allgemein werden, also auch allgemein akzeptiert? Nur wenn die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten einbezogen wurden. Das war der Grundgedanke der Landwehr, konzipiert als Nationalmiliz, verwurzelt im jeweiligen städtischen Milieu einschließlich der Wahl der Offiziere bis zum Hauptmannsrang.

Scharnhorst war weit von der Idee entfernt, das stehende Heer zugunsten der Nationalmiliz aufzulösen. Wie seine Schüler im preußischen Generalstab war er hingerissen von der Guerilla, die in Spanien gegen die französische Besatzung losgebrochen war, sah diesen Krieg aber stets im Zusammenhang mit den Operationen regulärer Truppen. Er erkannte die Durchschlagskraft des „Volkskriegs“, allerdings auch die Gefahren der Brutalisierung des Krieges als Folge einer ideologisierten Massenerhebung. Dennoch: Die Armee, die er aufbaute und die 1813, nach dem Ende der französischen Besatzung Preußens, für kurze Zeit entstand, hätte Teil einer gesamtstaatlichen bürgerlichen Dynamik werden können. Einer Dynamik, die vielleicht vor den Grenzen, die ihr Scharnhorst, der Bewunderer der Hohenzollern, gewiesen hat, nicht Halt gemacht hätte. Nach 1815 ist es anders gekommen. Scharnhorst wurde 1813 tödlich verwundet, seine Gesinnungsgenossen quittierten angesichts der Restauration den Dienst, versauerten in Garnisonsstädten oder passten sich an.

Militarisierung der Gesellschaft oder Verbürgerlichung der Armee? Scharnhorst selbst war kein Militarist im heutigen Sinn des Wortes. Obwohl er in den wenigen Schlachten, an denen er teilnahm (er war ein Genie des geordneten Rückzugs, des Ausbruchs aus der Belagerung), Mut und außergewöhnliche Urteilskraft zeigte, war er auch kein Krieger. Ihn erschütterten Elend und Tod auf dem Schlachtfeld, er war empört über Massaker an der Zivilbevölkerung. „Ich tauge nicht zum Soldatenberuf“, schrieb er seinen Lieben nach Hause. Aber vom Krieg, nicht von dem auf den Stabskarten, sondern vom „eigentlichen“ Krieg, kam er nicht los. Obwohl er das Ziel einer Armee von Bürgern vor Augen hatte, blieben seine Vorstellungen über ein reformiertes, staatsbürgerliches Preußen eigentümlich vage. Er, der stets die Kräfteverhältnisse nüchtern analysierte, der im günstigen Moment zum Angriff riet, schreckte vor jeder Auseinandersetzung mit den konservativen Machteliten Preußens zurück. Er war eben Wahlpreuße.

Scharnhorst hat die geschichtliche Bedeutung der Französischen Revolution erkannt, aber sein Urteil über „die Franzosen“ war gleichwohl eingefärbt von bösartiger Propaganda. „Seit jeher hasse ich die Franzosen“, schrieb er nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt, „aber jetzt ist dieser Hass zur Erbitterung geworden.“ Hier macht sich nicht nur ein verständlicher Wutschrei angesichts drückender französischer Besatzungslasten Luft. Hier findet die „Anthropologisierung“ der Feindschaft zu „dem Franzosen“ statt. Der Franzosenhass steht am Beginn jener Form von nationaler Identität, die ihre Kraft aus der Abwertung des Gegners zieht, nicht aus Selbstvertrauen.

Ursprünglich hatte Scharnhorst beklagt, dass es den „Teutschen“ an Vaterlandsliebe mangele, weil sie keine Möglichkeit hätten, sich als Bürger mit dem Gemeinwesen zu identifizieren, sich mithin selbst anzuerkennen. Die Logik dieses Arguments zielte auf Selbstbestimmung. Aber sie wurde durchkreuzt von der Liebe zur preußischen Monarchie, die den Bürgerlichen nobilitierte und zu einem großen Wirkungskreis verhalf. Nach 1815 zeigte sich ein weiteres Mal, dass Ideen sich vor Interessen blamieren. Aus dem Ideal des Bürgers in Uniform wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte der Untertan in der Kluft des preußischen Reserveoffiziers. Der nationale Identitätskitt, der sich vom Hass und von der Angst vor dem eingebildeten Feindbild nährte – er blieb.

CHRISTIAN SEMLER, 62, ist taz-Autor

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen