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Wurf aus der Wundertüte

Mit einem phänomenalen Tor rettet Jackson Richardson bei der Handball-WM in Frankreich die Gastgeber vor dem Viertelfinal-Aus und stürzt stattdessen das deutsche Team ins Tal der Tränen

aus Albertville ANKE BARNKOTHE

Trotz seiner sechs erzielten Tore schnaubte Thomas Knorr vor Wut und saß wie die Mehrzahl seiner Kollegen noch Minuten nach dem Abpfiff des WM-Viertelfinales Deutschland gegen Frankreich konsterniert in der Halle. Auch der überwiegende Teil des mit 5.700 Zuschauern randvollen Olympiapalasts von Albertville hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Dies allerdings, weil sie ihre Equipe Tricolore nach einer hochdramatischen, 70 Minuten andauernden Partie mit 26:23 hatten siegen sehen und sich umgehend in einem ähnlichen Strudel der Begeisterung wiederfanden wie ihre Helden auf dem Parkett.

24 Stunden zuvor war die Welt des Bankkaufmanns Knorr noch vollkommen in Ordnung gewesen. „Nachmittags saß ich noch in der Bank. Dann rief Heiner an und hat gesagt: Deutschland braucht dich. Na, da habe ich mich ins Flugzeug gesetzt, und hier bin ich. Ich freue mich, wieder dabei zu sein“, erzählte der Flensburger am Mittwoch nach dem 26:24-Achtelfinalsieg gegen Tunesien. Nach drei Jahren Länderspielpause war er kurzfristig für den verletzten Jan-Olaf Immel nachnominiert worden. Zwar hatte der Sieg gegen die sehr offensiv verteidigenden Nordafrikaner Kraft gekostet, war aber in keiner Phase des Spiels in Gefahr geraten. Frankreich hatte beim 23:18 über Portugal deutlich mehr Probleme, sich für das Viertelfinale zu qualifizieren, und konnte den Sieg erst in den letzten zehn Minuten sichern.

Die Voraussetzungen schienen günstig für das Viertelfinale, das dann wirklich nichts für schwache Nerven war. Nach Ablauf der regulären Spielzeit hatte es 22:22 gestanden. Ein Endstand, der dem Spielverlauf angemessen gewesen wäre. Aber wie bemerkte Trainer Heiner Brand im Eingangsstatement zur anschließenden Pressekonferenz plattitüdenhaft und dennoch treffend: „Sport ist nicht immer gerecht. Aber auch das muss man akzeptieren.“

Das 23:26, das Brand und sein Team nach der Verlängerung zu akzeptieren hatten, bedeutete seit 1999 zum dritten Mal hintereinander das Aus im Viertelfinale eines großen Wettbewerbs. Bei der EM in Kroatien scheiterte man an Jugoslawien, bei den Olympischen Spielen in Sydney an Spanien und nun denkbar unglücklich am vom Heimvorteil beflügelten Gastgeber Frankreich.

Dabei hatte Christian Schwarzer 25 Sekunden vor dem vermeintlichen Ende eigentlich schon den Siegtreffer erzielt. Doch 20 Sekunden später ermöglichte der begnadete französische Spielmacher Jackson Richardson, der bis dahin noch gar nicht recht ins Turnier gefunden hatte, durch einen seiner einzigartigen Unterarmwürfe den Ausgleich und somit den späteren Sieg und Halbfinaleinzug Frankreichs. Auch Frankreichs Trainer Daniel Costantini sah den Ausgang des Spiels eher im „mal fortune“ als in der mangelnden Leistungsfähigkeit der Deutschen begründet. Costantini, der seit 1985 französischer Nationaltrainer und im internationalen Handball mehr als scharfer Analytiker denn als Schönredner bekannt ist, sagte weiter, er habe das Spiel zweier gleichwertiger Mannschaften gesehen: „Deutschland scheint in einer Pechsträhne zu sein. Der Wurf von Richardson kommt einem Wunder gleich.“

Weiterhin hob der charismatische Franzose, der nach dieser Weltmeisterschaft sein Amt niederlegen wird, die starke Leistung des Magdeburger Torwarts Henning Fritz hervor. Fritz hingegen, wenngleich er bei seinem ersten Spiel als erster Mann innerhalb dieses Turniers tatsächlich eine überaus starke Leistung gezeigt hatte, konnte mit Bezug auf den Wurf von Richardson mit den verteilten Blumen wenig anfangen: „Was nützt mir eine gute Leistung, wenn ich den entscheidenden Ball nicht halte.“ Ähnlich unversöhnlich und selbstkritisch zeigte sich Mannschaftskapitän Frank von Behren, der zwar mit seiner Viertelfinalprognose, das Spiel der Franzosen würde den Deutschen liegen, Recht behalten hatte, aber am Ende weder von Pech, von Glück noch von ähnlich mirakelhaften Dingen etwas wissen wollte. Sein spontanes Fazit fiel wesentlich nüchterner aus: „Vielleicht sind wir auch einfach nicht gut genug.“

Nun fährt die deutsche Handballnationalmannschaft zur Finalrunde am Wochenende zwar auch nach Paris, aber lediglich um die Platzierungen fünf bis acht auszuspielen. Der heutige Gegner ist dabei sensationellerweise Russland, das überraschend mit 19:21 gegen Ägypten ausschied, welches nun auf Frankreich trifft. Um die Medaillen spielen heute und morgen außerdem Schweden, das die Ukraine klar mit 34:20 bezwang, und die Jugoslawen, die sich mit 26:24 gegen Spanien durchsetzten.

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