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Der Mann, der „Camus“ war

„Ich bin ein Papier-Sammler. Jetzt fällt es mir auf die Füße.“

von OTTO DIEDERICHS

„Bewaffneter Kampf“ und „Bekennerschreiben“ wären die richtigen Vokabeln gewesen. Aber „Terrorismus“ und „Tatbezichtigung“? So schreibt niemand, der mit der linksmilitanten Szene sympathisiert. Doch genau so steht es in den Unterlagen, die Mitglieder des „Revolutionären Aufbaus“ in der Schweiz im letzten Herbst zufällig bei ihrem deutschen Genossen Manfred S. gefunden hatten. Nach einem Treffen mit S., irgendwo im Süddeutschen, war für die Schweizer klar: Sie hatten einen Spitzel enttarnt. Seither ist die Geschichte der Enttarnung von Manfred S. im Internet zu finden. Doch ein einfacher Spitzel war der Mann mit dem Decknamen „Camus“ nicht. Die Agentenstory ist komplizierter und sie zeigt, wie fließend im Geheimdienstbereich die Grenzen sein können. Manfred S. stand nicht nur im Sold deutscher Dienste. Über eine englische Wirtschaftsdetektei spionierte er zudem für internationale Konzerne. Eine brisante Mischung.

Begonnen hat der Fall „Camus“ zunächst recht simpel. Knapp 30-jährig tritt Manfred S. Ende 1975 in München in die Rote Hilfe und den Kommunistischen Studentenbund ein – Anhängsel linker K-Gruppen, wie es sie in den 70er-Jahren überall dutzendweise gab. Lange währt es nicht. Schnell werden die Genossen misstrauisch, jeder Kontakt wird abgebrochen und S. muss wieder austreten. Der Spitzelverdacht verläuft zunächst im Sande. Mitte der 80er-Jahre gründet S. in München dann eine kleine Film- und Videoproduktionsfirma. Seine „gruppe 2“ erklärt er zu einem politischen Projekt, bei dem nur er selbst offen auftrete. Der Rest der Gruppe halte sich aufgrund der Erfahrungen des „Deutschen Herbstes“ 1977 im Hintergrund. Diese Legende, die schon 1985 nur noch wenig Sinn machte, wird sich bis zur Jahrtausendwende halten.

Solange öffnen sich dem vermeintlichen Dokumentarfilmer die Türen der linken Protestszene. Noch 1985 beginnt Manfred S. mit Vorbereitungen für einen Dokumentarfilm über die Roten Brigaden, das italienische Pendant zur deutschen RAF. Fertig wird der Film nicht. Doch dafür gibt es später einen anderen Film über RAF-Gefangene. Eher nebenbei gründet seine „gruppe 2“ 1988 ein öffentlich zugängliches Archiv für die Bewegung. Nutzer sollen allerdings ihre Personalien hinterlegen. Das kommt nicht gut an. Erfolgreicher ist die zeitgleiche Herausgabe der Zeitschrift texte. In loser Folge erscheint sie bis 1995. Publiziert werden fast ausschließlich Verlautbarungen bewaffneter Gruppen.

So weit keine ungewöhnliche linke Biografie. Wären da nicht noch weitere Unterlagen gewesen: haufenweise Karteikarten, Fernschreiben, Kontaktberichte und Planungsvorschläge. Dass die von den Schweizern im letzten Herbst bei Manfred S. gefundenen Materialien echt sind, auch wenn ihnen fast alle für deutsche Sicherheitsbehörden typischen Merkmale fehlen, bezweifeln Sicherheitsexperten nicht. Für den Mann, der sich beim Bundeskriminalamt auskennt, ist die Sache eindeutig: Der Fall Manfred S. ist für das BKA eine Nummer zu groß. Das rieche doch eher nach Geheimdienst. Die Herren von den Diensten sind zurückhaltender: Eine „peinliche Panne“, heißt es in ihren Kreisen. Weitere Auskünfte gibt es nur im Konjunktiv. Vorausgesetzt, es gäbe überhaupt einen Fall Manfred S., beginnen sie gern. Angesichts der erkennbaren Informationszugänge wäre es schon sehr seltsam, wenn da nicht auch die Dienste rangingen. Bedeutungsvolle Blicke werden in Richtung München geschickt. Dort allerdings befinden sich mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) gleich zwei Nachrichtendienste. Der Auslandsgeheimdienst BND und das für die Inlandsaufklärung zuständige LfV in einem Boot. Wie geht das zusammen?

Wenn beide Dienste die gleiche Person mit inhaltlich identischen Aufgaben betrauen, wird die gesetzlich definierte Aufgabentrennung unterlaufen. Üblicherweise geben Nachrichtendienste ihre Informanten weiter, wenn sich bei deren Arbeit Veränderungen ergeben. BND und Verfassungsschutz agieren dabei in einer bislang unbekannten Grauzone. Ein solcher Schluss ist für Praktiker unverständlich und sie philosophieren über „Schnittstellen“. Gerade bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus könne man die Herkunft von Informationen nicht an Grenzen entlang trennen. Weder geografisch noch behördlich. Da könne es notwendig sein, eine geheime „Quelle“ auch einmal gemeinsam zu führen.

Offenbar ist der „Revolutionäre Aufbau Schweiz“ solch ein Fall. In Sicherheitskreisen werden der Gruppe gute Verbindungen zu den Resten terroristischer Kreise in Italien, Spanien, Frankreich, Belgien und der Bundesrepublik nachgesagt. Worauf sich die Einschätzung stützt, liegt im Dunkeln. Mit einem Messer zwischen den Zähnen laufen ihre Mitglieder nicht herum, und ihrem Frontmann fehlt schon die Grundausbildung in Konspiration. Aber in der so genannten Gefangenenarbeit gegen Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus engagieren sie sich.

Das scheint zu reichen. Und erklärt Vieles. Denn Mitte der 80er-Jahre begannen für Manfred S. im Ausland erste Früchte zu reifen. Zufällig hatte er Kontakte in die Schweiz gefunden, die sich ab 1993 intensivieren. Ein Jahr zuvor hatte sich dort der „Revolutionäre Aufbau“ gebildet. Die „Schnittstelle“ zum Bundesnachrichtendienst ist entstanden. Fortan nimmt Manfred S. immer häufiger an Treffen des „Aufbaus“ teil und tritt ihm schließlich bei.

Eine Ein-Mann-Dependance in Deutschland ist entstanden. Die neuen Genossen setzen viel Vertrauen in den Münchner Dokumentarfilmer. Er darf ihre Veranstaltungen und Seminare für die Nachwelt festhalten. Über alles, was er so erfährt, schreibt S. als „Camus“ detaillierte Berichte. Die Filmaufnahmen vervollständigen seine umfangreiche Personenkartei. Aufwendungen rechnet „Camus“ behördlich sauber nach dem jeweiligen Wechselkurs ab. Aus München wird „Camus“ zusätzlich mit Archivmaterial versorgt. Ein Fehler, wie sich zeigen soll. Bei seiner Enttarnung finden sich seitenlange Fernschreiben und Protokolle von Besuchs- und Postüberwachungen bei in der Bundesrepublik inhaftierten RAF-Gefangenen. „Basisinformationen“ heißt so etwas im Jargon der Geheimdienste. „Ich bin ein Papiersammler – was mir jetzt allerdings auf die Füße fällt“, kommentiert Manfred S. den Fund heute sarkastisch.

Doch allein mit dem Verfassen von Berichten hat sich der Mann, der „Camus“ war, nicht zufrieden gegeben. In Deutschland versucht er sich einmal als Waffenhändler und bietet in der Szene Pistolen an. Der Deal kommt nicht zustande. Doch solche Geschäfte sind ohnehin eher untypisch für „Camus“. Seine Sache ist das Aufspüren und Knüpfen von Kontakten und Verbindungen. Und so entwickelt er Vorschläge für eine „eigene operative Planung“. Über eine Aktualisierung des „in den Jahren 1986/87 in Italien gedrehten – jedoch nie fertig gestellten – Films zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes“, so schlägt er vor, ließen sich „unmittelbar direkte Kontakte in nahezu alle Bereiche“ aufnehmen. Ein ähnliches Projekt regt er für Belgien an.

Seine Schweizer Connections intensiviert er durch die Übersetzung der italienischen Zeitschrift Rapporti Sociali. Deren deutsche Ausgabe, so „Camus“, wird von den Schweizern, „für besonders wichtig“ gehalten. „Durch die Übernahme des Vertriebes dafür in die BRD“ verspricht er seinen behördlichen Auftraggebern auch in Deutschland einige neue Erkenntnisse. Denen gefiel der Gedanke, und so wurde ein Auftrag an professionelle Übersetzer vergeben. „Rund 10.000 Mark hat das gesamte Projekt gekostet“, haben Tells Revolutionäre nachträglich ausgerechnet.

Dass er „Camus“ sei, bestreitet Manfred S. nicht. Doch auf die Frage, ob er seine Berichte für einen Geheimdienst verfasst habe, erklärt er kategorisch: „Ganz klar nein.“ Alle Berichte seien lediglich zur Information der unbekannten Genossen in der „gruppe 2“ bestimmt gewesen. Darauf besteht er. Die allerdings verhalten sich bis heute still. Selbst jetzt, wo Manfred S. ihre Unterstützung dringend nötig hätte, lassen sie ihn im Regen stehen. Für ein linkes Projekt ein mehr als unsolidarisches Verhalten. Von Geheimdiensten hingegen ist nichts anderes zu erwarten.

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