: Trostlose Helden
2003: das Jahr, in dem wir die russische Literatur abhaken. Heute wird die Frankfurter Buchmesse eröffnet, Schwerpunkt: Russland. Alles, was Sie schon immer über Bücher aus diesem Land wissen wollten, sich bislang aber nicht zu fragen trauten
von WLADIMIR KAMINER
In dem immer noch andauernden deutsch-russischen Kulturjahr bekam ich beinahe jede Woche eine Anfrage von Journalisten, die alle plötzlich die russische Gegenwartsliteratur für sich entdeckten und von mir eine Besprechung über die aktuellen Werke verschiedener russischer Autoren haben wollten. Unglaublich, wie ordentlich alles in Deutschland gemacht wird, dachte ich bei mir. In einem Jahr wird Russland abgehakt und im nächsten dann zum Beispiel Japan. Bei uns zu Hause in Berlin ist alle Jahre ein deutsch-russisches Kulturjahr und jeden Abend in der Küche veranstaltet meine Frau eine kleine Buchmesse mit dem Schwerpunkt „russische Literatur“. Nur liest sie überwiegend Autoren des 19. Jahrhunderts, das 20. ist ihr zu blutrünstig.
Ich kann euch eine Besprechung über „Anna Karenina“ geben, antworte ich auf Anfragen gerne. Aber „Anna Karenina“ gehört wohl nicht unbedingt zum Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse. Im Schatten dieses Schwerpunkts hatten die deutschen Verlage haufenweise russische Bücher übersetzt und auf den Markt geworfen. Nun müssen sie verkauft werden. „Kennst du Makanin? Mamlejew? Prigow? Deneschkina? Warum schreiben sie alle so pessimistisch? Dieser Zynismus … haben sie früher auch so geschrieben? Liest du diese Russen noch? Was ist überhaupt mit der russischen Literatur los?“, haken die Journalisten nach. Natürlich habe ich sie alle gelesen, erkläre ich. Macht euch keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung mit der russischen Literatur, versichere ich ihnen. Die Überwindung der sozialistischen Vergangenheit gilt im Groben als abgeschlossen. Lustige Anekdoten über skurrile Sitten der damaligen Zeit sind nicht mehr angesagt.
Anders als die Ostdeutschen zum Beispiel, die mit ihren Ostalgieshows und der dazugehörigen Literatur durchaus versuchen, die Vergangenheit durch und durch zu filtern („War ja nicht alles schlecht“), haben die Russen sich in dieser Frage längst festgelegt. Es war alles schlecht, ist immer schlechter geworden und wird schlecht bleiben, egal, was kommt. Nur die Omas, die mit roten Fahnen winkend manchmal Wache vor dem Lenin-Museum halten, sind in dieser Frage die Andersdenkenden, aber sie stehen unter Naturschutz. Die übrigen Bürger des neuen Russland glauben nur an sich selbst.
Warum soll denn auch alles gut sein? Sogar in einer schlechten Welt lässt es sich leben und Spaß haben, behaupten die Russen. Gerade in einer Welt, in der alles falsch läuft, ist die Suche nach dem richtigen Weg umso intensiver. Die gegenwärtige Literatur liefert ausreichend Stoff für die Trostlosigkeit und Verzweiflung. Wenn diese schweren Stoffe als Pulver oder Flüssigkeit erhältlich wären, könnte man damit die Kakerlaken auf dem ganzen Planeten ausrotten. Der Opa-Erotomane von Makanin, der nachts nackt und blutend auf dem Dach des russischen Parlaments tanzt, die einfachen Helden von Mamlejew, die jederzeit bereit sind, einander aufzuessen, oder die vielen anderen jungen zukunftslosen Helden der Gegenwart – sie alle leiden an schlechtem Sex, schlechtem Wein, schlechten Drogen, und vor allem an schlechten Menschen, die ihnen ständig welche in die Fresse hauen. Manchmal erblühen in diesem Sumpf der Auswegslosigkeit seltsam schöne Blumen. Zum Beispiel der Schriftsteller Koslow. Dazu später.
Nun ist diese traurige Trashliteratur zwar oft sehr spannend, landet aber so gut wie nie auf den russischen Bestsellerlisten. Das hat damit zu tun, dass der russische Durchschnittsleser laut Statistik eine Frau um die fünfzig ist. Und diese Frau hat genau wie ihre deutschen oder amerikanischen Schwestern auf die Trostlosigkeit und den Drogenwahn der neuen Zeit geschissen. Sie will über Liebe lesen. Gern auch unglückliche Liebe. Sie darf ein wenig ausgefallen sein, mit Peitsche oder sogar mit dem Tod am Ende. Was sie nun wirklich lesen will, das wissen die Schriftsteller-Weibchen besser als die Männchen. Und sie schreiben das auch. Frau Ulitzkaja zum Beispiel hat einen Roman geschrieben, in dem sich ein älterer Arzt in die Gebärmutter seiner Patientin verliebt, obwohl es so viele andere schöne Organe gibt. Ich habe nichts dagegen zu sagen, es ist eben Geschmackssache – diese Liebesromane.
Die Männer in Russland sind auch ohne Literatur stets mit dem Lesen beschäftigt. Sie müssen ja schließlich Zeitungen, Gebrauchsanweisungen für neue Elektrogeräte und die ganzen bescheuerten neuen Steuergesetze lesen. Wenn sie die Nase voll davon haben und Lust auf Literatur verspüren, dann soll es am besten in dem Buch über einen anderen Planet gehen. Unterhaltsame Fiktion – eine Notlandung in einer fremden Galaxie, zwei Kosmonauten erkunden den unbekannten Planeten und stellen fest, dass der Planet bewohnt ist! Und zwar von wilden Frauen, die halb nackt in der freien Natur herumlaufen und die Kosmonauten alle supergeil finden. Die langsame Annäherung dieser beiden Kulturen beginnt auf der Seite 182 … Zu Hause warten auf die Kosmonauten Frau und Kind, aber was soll’s, es war ja eh eine Notlandung. Frau und Kind können inzwischen die Ulitzkaja noch einmal lesen. Oder den Schriftsteller Koslow, der kann auch über die Liebe schreiben. Aber davon später.
Die Bücher der Trostlosigkeit mit ihren saufenden, kotzenden, drogensüchtigen und einsamen Helden finden also wenig Zustimmung beim Durchschnittsleser, der eigentlich sowieso im ersten Beruf ein professioneller Fernsehgucker ist und das mit den Büchern nur so nebenbei erledigt. Er kauft nicht die Bücher, die jedes Jahr für den renommierten Preis Nazionalnij Bestseller nominiert werden und einen Ehrenplatz im Eingangsbereich des Buchladens bekommen. In diesen Büchern wird versucht, der Bevölkerung eine neue Ideologie zu vermitteln, die ihnen als Stütze im Leben dienen soll. Vom Volk aber werden sie verächtlich „Nazibestseller“ genannt und kaum gekauft. Entweder über Liebe oder gar nichts. Na vielleicht noch ein Kalender mit Gedichten für jeden Tag oder ein Kochbuch.
Ich habe mich neulich mit dem Schriftsteller Koslow beschäftigt, dessen Buch mir in einem russischen Lebensmittelladen aufgefallen war, weil der glatzköpfige Junge auf dem Cover mich sehr an meinen besten Freund von vor zwanzig Jahren erinnerte. Sein Erzählungsband ist ausnahmsweise nicht übersetzt und heißt „Gopniki“ – was man auf Deutsch mit „Arschlöcher“ übersetzen könnte. Koslow beschreibt etwas zurückhaltend, aber klar das eintönige Leben in einer Arbeiterstadt – irgendwo zwischen Moskau und St. Petersburg. Es gibt dort nur ewig schlechtes Wetter, schlechten Wein und schlechten Geschlechtsverkehr.
Eine Erzählung heißt „Bergman“. Der Held wohnt noch mit den Eltern in einem Zimmer, er hat keine Freundin, keine Freunde und keinen Job. Regelmäßig geht er in ein Kino, um sich dort den einzigen Film anzuschauen, bei dem er mit Sicherheit allein im Saal sitzt. Irgendwas von Ingmar Bergman. Er nimmt immer eine Pornozeitschrift mit, um sich in Ruhe einen runterzuholen. Die Kassiererin im Kino ist ein großer Bergman-Fan, sie hasst diese Stadt, deren Bewohner für alles, was nicht blutige Action ist, zu dämlich sind, und verliebt sich natürlich in den jungen Mann, der als einziger regelmäßig Bergman guckt. Einmal kommt sie zu ihm in den Saal und sieht ihn mit heruntergelassenen Hosen dasitzen, auf der Leinwand läuft der Film ab – seltsame Bilder aus einer anderen Welt.
Sie kommt zu ihm, sie lieben einander im Kino. Das nächste Mal können wir uns Bergman bei mir zu Hause angucken, sagt die Kassiererin, ich nehme die Kassette mit nach Hause. Sie schreibt ihm ihre Adresse auf seine Zigarettenschachtel. Draußen zieht der Held die letzte Zigarette raus, überlegt kurz und schmeißt dann die Schachtel in eine Mülltonne. Schluss mit Bergman, sagt er zu sich selbst und geht weiter, den richtigen Film suchen, bekommt aber gleich um die Ecke von den anderen Jungs heftig einen auf die Fresse, weil er sich mit seiner Bergman-Macke wohl für etwas Besonderes hält. Er aber bleibt trotzdem guter Dinge.
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