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Erfahrung ist das Abenteuer

Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries veröffentlichen den zweiten Teil des Comics „Die Hure h“

    

von OLE FRAHM

Die Hure h von Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries ist kein einfacher Comic. Keine bunten Bildchen, sondern schwarz-weiße Zeichnungen. Keine Panels, zwischen denen sich der Unterhaltung suchende Blick zerstreuen kann, sondern zwei Bilder pro Seite. Die Sprechblasen drängen sich am oberen oder unteren Rand des Bildes, fast wie Blocktexte. So mancher Comic-Fan wird eine Abenteuer-Handlung vermissen, gelegentlich scheint sogar die Zeit stillzustehen, die Hure h wird aus vielen verschiedenen Perspektiven gezeichnet, während der Text fast repetitiv deren Situation umkreist. Die Hure h, dessen zweiten Teil Die Hure h zieht ihre Bahnen Feuchtenberger und de Vries jetzt vorgelegt haben, ist ein phantastischer Comic.

Ein phantastischer Comic, weil er sich der gängigen Rezeption sperrt. Er gibt keine einfachen Antworten, sondern Bilder und Worte, zwischen denen viel unbestimmt bleibt ohne beliebig zu werden. Wer ist die Hure h? Von Geschichte zu Geschichte der drei Episoden sieht sie anders aus. Es ist keine einfach wiedererkennbare Comic-Figur wie Micky Maus, Asterix oder das Marsipulami. Aber wie bei vielen Comic-Figuren wissen wir gleichwohl nicht, woher sie kommt, warum sie die Abenteuer erlebt, die sie erlebt. Nein, eben keine Abenteuer wie die des Reporters Tim mit seinem Hund Struppi, sondern Erfahrungen. Erfahrung ist hier das Abenteuer.

Die Bilder und Worte in Die Hure h zieht ihre Bahnen versuchen Erfahrungen zu skizzieren, die sich nicht so einfach benennen lassen. Immer wieder fragt sich die Hure h, wie etwas sein wird, wenn sie heiraten wird, was es heißt, frei zu sein. Immer bleibt zweifelhaft, ob sich die erhoffte Erfahrung machen lässt. Die Sätze von Katrin de Vries sind reduziert, immer Aussagesätze, die sich wie die Bilder aneinander reihen. Oft wiederholen sie sich, als wollten sie sich versichern, dass sie sagbar sind: „Ich bin frei.“ Sie haben einen Rhythmus, der sich wiederholt, oft durch die im Comic völlig unübliche Ergänzung, „denkt die Hure h“. Sie gewinnen an Distanz zu den Bildern und eröffnen so einen Assoziationsraum, der zur mehrfachen Lektüre einlädt.

Und es entsteht eine besondere Konzentration auf die Zeichnungen der Hamburgerin Anke Feuchtenberger. Diese folgen einer eigenen Logik: Sie bilden nur scheinbar ab. Ihre Einfachheit lenkt davon ab, dass sie nicht nur Bilder sind, sondern Zeichen, mit denen komplexe Verhältnisse denkbar werden.

Feuchtenbergs Imagination wirkt auf den ersten Blick zeitlos. Landschaften einer merkwürdig leeren Welt, in der sich, wie aus dem Nichts, Türme und Städte erheben. Das lenkt den zweiten Blick darauf, dass es hier eben um andere als um sichtbare Landschaften geht. So geht die Hure h Schienen entlang, an denen Signalmasten aus dem 19. Jahrhundert stehen – ganz wie aus einer Geschichte Rudolphe Töpffers, einem der großen Vorläufer der Comics. Von einem Bild auf das nächste fehlen sie, nachdem sie mit dem “großen und schweren Becken“ der Hure h assoziiert wurden. Diese liegt auf den Gleisen: „Ach. Denkt die Hure h. Vielleicht möchte ich nur liegen bleiben und Bahnen ziehen“ – wie die Schienen durch die Landschaft. So schnell jedoch, wie die Signalmasten verschwanden, weiß die Hure h, dass auch diese Bahnen keine Freiheit bedeuten.

Das Problem der Schiene – als Problem der Eisenbahn – holt sie ein: War diese im 19. Jahrhundert so sehr Symbol des Fortschritts, dass Marx von den Revolutionen als Lokomotiven schreiben konnte, ist diese Hoffnung im 20. Jahrhundert verschwunden. Die Freiheit liegt woanders. Vielleicht läge sie darin, überhaupt eine Erfahrung zu machen. Doch die Hure h kann sich von den Schienen nicht lösen. Zuletzt geht sie auf U-Bahn-Gleise. Auf dem Bahnsteig sitzt eine alte Frau, die lacht: über die Hoffnung, frei zu sein. Die Hure h zieht ihre Bahnen weiter. Wohin? Anke Feuchtenberger arbeitet schon an einer weiteren Fortsetzung.

Anke Feuchtenberger/Katrin de Vries: Die Hure h zieht ihre Bahnen. Edition Moderne, 2003, 80 Seiten, 19,80 Euro; Der erste Band Die Hure h ist soeben im Reprodukt Verlag (Berlin) wieder aufgelegt worden: 56 Seiten, 17 Euro

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