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Es mäandert

Die Marktstube im Karoviertel hat seit Sommer eine neue Inhaberin. Morgen liest Dietrich Kuhlbrodt dort laut vor

Nähe – Ferne: „Artgenda, das Ostseefestival in Hamburg. Felix führte 100 Menschen durch die Karolinenpassage. Ich tanzte in einem offenen Fenster vor mich hin. Und tobte. Und machte die Leute an. Industrial Music. ‚Lauter‘, schrie ich. Gloria Brillowska drehte auf. ‚Noch lauter!‘“ Dietrich Kuhlbrodt, von dem diese Zeilen stammen, war nicht so ein Marktstuben-Gänger. Eher schon traf man ihn auf dem Kiez. Oder vor seinem Schreibtisch, wo er Kinokritiken verfasste. Und als Oberstaatsanwalt (“So warnt man vor einem Vampir“, findet er) vor Gericht. Aber da gingen die Punks nicht freiwillig hin. Die trafen sich zu dieser Zeit, Ende der 70er Jahre, im Karoviertel, in der Nähe der Wohnung, in der Kuhlbrodt im vergangenen Jahr die Performance durchgezogen hat. Jetzt liest der Mann mit der Glatze in dem ehemaligen Hangout der Hamburger Punks aus seiner herrlich mäandernden Anti-Autobiografie Das Kuhlbrodtbuch. Und die Marktstube hat eine neue Inhaberin.

Seit Anfang Juli dieses Jahres betreibt Luka Skywalker die Kneipe in der Marktstraße 119, die, so sagt sie, „viel mehr als eine Bierabfüllstation“ sein soll. Das ist auch besser so, denn wenn man gar nicht mehr klar im Kopf ist, versteht man die Sinnsprüche und Zitate nicht, die in der neuen Marktstube an den Wänden hängen. So wie das vom aktuellen Monatsflyer: „Es war am frühen Morgen jenen langweiligen Tages, den wir jetzt zu Ende gehen sehen, als der junge Marx an Ruge schrieb: ‚Sie würden nicht sagen, ich hielte die Welt zu hoch; wenn ich dennoch nicht an ihr verzweifle, so ist es doch nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt.‘“ Die kopierten Zettel an den Wänden stammen vom Flaschenpost-Abend, den einmal monatlich Leute aus dem Umfeld der Hamburger Studienbibliothek organisieren.

Lockermachen hilft aber schon. Abends gibt es DJs, zum Beispiel jeden Montagabend loungige Musik von Gilbert & George aka Sascha Höfer und Patrick Zinner (Finn). Oder Swingin‘ Swanee. Oder Rogério Branco. Mitte Oktober wird DJ Adenauer revisited von „Elmar und Felix“. „Im Moment schaff‘ ich nur eine Lesung pro Monat“, sagt Luka Skywalker, die seit Anfang des Monats jeden Tag von 15 Uhr an selbst hinterm Tresen steht, nur montags nicht. „Ich hab mir auch überlegt, ob ich das ‚Fräulein!‘ mit auf die Speisekarte nehmen soll, so für fünf Euro.“ Und dabei gibt es schon keinen „Caipi“ bei ihr, damit bestimmte Leute wegbleiben.

Einen Internetzugang hat der Laden schon. Auf Dauer will Skywalker die Möglichkeit schaffen, dass jeder mit seinem Laptop oder an einem festen Rechner bei Kaffee und Kuchen Mails checken und surfen kann. Die Marktstube denkt sie sich aber auch jenseits der virtuellen Welt als Ort von Netzwerken, als einen Treff, an dem man sich auch mal einen Videobeamer oder einen Diaprojektor ausleihen kann. Letzteren gibt es schon, denn im November liest Elisabeth Naumann aus ihrer Doktorarbeit über Kioske und Currywurstbuden in Berlin und möchte dem Publikum die Orte ihrer langjährigen Recherchen auch vor Augen führen.

„Schreib doch, dass Leute, die noch Fotos aus den Punkzeiten der Marktstube haben, die mal vorbeibringen sollen.“ Damit könnte man dann eine Ausstellung in der Kneipe machen. Mit den Zitaten, die derzeit die Wände zieren, dürfte Dietrich Kuhlbrodt am Samstag keine Probleme haben, denn er hat nach eigenem Bekunden schon früh eine Diskurstechnik entwickelt, „die verschleiern sollte, dass ich Adorno nicht draufhabe“.

JANA BABENDERERDE

Lesung: Sa, 11.10., 20 Uhr, Marktstube (täglich geöffnet ab 15 Uhr) Dietrich Kuhlbrodt, Das Kuhlbrodtbuch, Verbrecher Verlag, 2002, 250 S., 14 Euro

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