Es tut gar nicht weh

Matthias Hartmann hellt einen Text von Falk Richter auf: Die Bochumer Uraufführung von„Electronic City“ ersetzt kulturpessimistische Untertöne durch den Spaß an der Verwandlung

von MORTEN KANSTEINER

In dem Strom von Anweisungen, Monologen, Einwürfen, die Falk Richter zu einem Stück namens „Electronic City“ kanalisiert hat, treibt irgendwann eine Interpretationsanleitung vorbei: „Joy und Tom, beide erschöpft, beide einsam“, heißt es da, „versuchen, ‚ihre Figur‘ zusammenzuhalten, eine Linie durch die Handlung ihres Lebens zu finden, ‚echt‘ zu wirken, sie selbst zu sein.“

Das ist also die Aufgabe. Richter macht sie für seine Schützlinge so kompliziert wie möglich. Tom muss als Manager von einem Meeting zum nächsten hasten, quer durch die Welt. Für private Begegnungen bleibt keine Zeit. Und gemeinerweise sehen die Hotels immer gleich aus. Joy lebt ganz ähnlich, einige Hierarchiestufen weiter unten. Alle paar Tage wechselt sie den Arbeitsplatz: vom Call-Center ins Lager und dann an die Kasse in einer Flughafen-Lounge, auch das auf globaler Ebene. Beide steuern auf den Kollaps zu. Aber selbst der bietet keine Erlösung. Denn genau dann, wenn Joy an einer defekten Kasse schier verzweifelt, wenn Tom sich endgültig in einem Hotelflur verlaufen hat, zieht Richter ihnen den existenziellen Boden unter ihrem Leiden weg: Unversehens werden beide als Fiktionen entlarvt. Die Stimme eines Regisseurs bittet Tom, den Zusammenbruch zu wiederholen: „Da stimmte irgendwas mit dem Aufschlag nicht.“

Auch die Form des Stücks bietet keinen Halt. Von Dialogen oder abgeschlossenen Szenen kann keine Rede sein. Nur manche Aussagen sind direkt Tom oder Joy zugeordnet. Der Rest des Textes ist einfach da, ohne eindeutige Quelle: abstrakte Kommentare zur ortlosen Arbeitswelt und narrative Einwürfe über das Leben der Figuren; teils einfühlsame, teils autoritäre Fragen, Befehle und Ratschläge.

Kein angenehmer Lebensraum für zwei Figuren auf der Suche nach Kohärenz. Für Matthias Hartmann hingegen, der jetzt in Bochum die Uraufführung besorgt hat, ist „Electronic City“ eine dankbare Vorlage. An Texten von Albert Ostermaier hat er bereits erprobt, wie sich ein unstruktierter Strom von Aussagen unter Zuhilfenahme von Bildmedien über die Bühne lenken lässt. Und schon bei seiner Adaption des Christian-Kracht-Romans „1979“ hat er Figuren und Welten entworfen, die stets im Fluss blieben. Hartmann schickt zehn Schauspieler in die „Electronic City“: fünf Frauen, fünf Männer. Mal agieren sie synchron. Mal tritt einer vor – als Tom-Alleinvertreter –, während die anderen hinter halb transparenten Wänden in Deckung bleiben: innere Stimmen mit Microports. Mal entstehen konkrete Situationen: ein Interview, Dreharbeiten, die Warteschlange an Joys Kasse.

Die Fragmentierung der Figuren verschärft Hartmann noch, indem er den Körpern Leinwände zur Seite stellt. Hier werden Livebilder der Schauspieler mit virtuellen Realitäten zusammengemischt. Oder einfach miteinander: Erst auf einer Leinwand kommen Lena Schwarz, die links, aufmerksam vorgebeugt, auf einem Stuhl sitzt, und Johann von Bülow, der rechts stumm die Lippen bewegt, zu einem Fernsehinterview zusammen. Den Text spricht eine Dritte: Julie Bräuning, vorn an der Rampe.

Körperliche Präsenz verliert an diesem Abend an Gewicht. Begegnungen kommen über das Mischpult zustande. Die medialen Abbilder wirken oftmals überzeugender als ihre handfeste Vorlage. Und die Stimmen haben ohnehin ihre Bindung an die Anatomie verloren. In anderen Zusammenhängen dient der Körper immer wieder als letzter Anker der Identität. In dieser Inszenierung werden die Taue gekappt. Und siehe da: Es tut gar nicht weh. Vielmehr ist es ein Vergnügen zuzusehen, wie die Schauspieler ihre Bewegungen virtuos den medialen Konstellationen anpassen, wie sie mit perfektem Timing Individualität an- und wieder ablegen. Verblüffend auch, wie geschmeidig die Illusionsmaschinerie ihr Programm abspult. Die Inszenierung untergräbt den latenten Kulturpessimismus der Textvorlage. Falk Richter baut leicht altbackene Polaritäten auf: Technik, Globalisierung und Realitätsverlust machen den Menschen kaputt, und nur in der Liebe liegt ein wenig Hoffnung. Matthias Hartmann hingegen lässt den Spaß an Illusion und Verwandlung in den Vordergrund treten.

Am Ende fällt es schwer, für Tom und Joy Mitleid aufzubringen. Selbst schuld, wenn sie es nicht schaffen, „eine Linie durch die Handlung“ zu finden. Auf der Bochumer Bühne entsteht aus den Fragmenten ihres Lebens ein geradezu nahtloser Abend.