: Gehorsame graue Männer
Die australische Journalistin Anna Funder sucht den Treibstoff des DDR-Regimes: Für ihren Essay „Stasiland“ besuchte sie Menschen mit einer Mauer im Lebenslauf
Als die 30-jährige Australierin Anna Funder 1996 ihren Berliner Kollegen vorschlägt, doch mehr Geschichten über den Widerstand der Menschen in der DDR zu bringen, winken die beiden Fernsehjournalisten ab. Das sei doch längst gelaufen! Die Ostler hätten sich als uninteressanter „Haufen Meckerer“ mit ein paar angepassten Menschenrechtsaktivisten darunter geoutet, und wenn es tatsächlich eine Story über Zivilcourage zu erzählen gäbe, dann hätte man die mit Sicherheit schon entdeckt. Ob damals irgendjemand geahnt hat, dass die Ostalgiewelle einmal über das wiedervereinigte Deutschland schwappen würde?
Anna Funder lässt sich nicht beirren. Die studierte Juristin fängt bei null an und sucht per Annonce nach ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit. Per Zufall oder Schneeballprinzip trifft sie auf Leute, durch deren Leben die Stasi oder die Mauer einen Strich gezogen hat. Sie besucht das Stasi-Headquarter in der Berlin-Lichtenberger Normannenstraße, das mit allen erdenklichen Foltereinrichtungen ausstaffierte Gefängnis in Hohenschönhausen und das Nürnberger Büro der Gauck-Behörde, das für die Rekonstruktion jener unzähligen Säcke zerschredderter Akten zuständig ist, die die Mitarbeiter des MfS nach dem 9. November 89 hektisch vernichteten.
Aus Anna Funders Gesprächen und Beobachtungen ist „Stasiland“ entstanden, ein spannendes, journalistisch genaues Buch in bester angelsächsischer Tradition. Das heißt: Funder tut gar nicht erst so, als sei sie eine streng objektivierende Instanz, deren einzige Funktion es ist, gründlich recherchierte Fakten zu einem Textbündel zu schnüren und mit dem Stempel „historische Wahrheit“ zu versehen. Stattdessen bezieht sie ihre Neugier und den ihre Wahrnehmung bestimmenden Alltag so offen und geschickt in die Reportagen mit ein, dass am Ende fast so etwas wie ein erzählerischer Bogen und, tatsächlich, ein Roman ensteht. Doch auch wenn Funder den ein oder anderen Kater erwähnt, den sie sich ausgerechnet in Begleitung der Ostberliner Rocklegende Klaus Renft zulegt, geht es weniger um persönliche Befindlichkeiten als um die Frage, ob und wie sich ein Land dem Prinzip Stasi unterwerfen konnte.
Am Anfang steht die Geschichte von Miriam, der es als widerborstiger 16-Jähriger um ein Haar gelingt, in Berlin über die Mauer in den Westen zu spazieren, woraufhin ihr die DDR Ausbildung und Karriere verweigert. Als später ihre Schwester einen Fluchtversuch unternimmt, wird Miriams Mann Charlie in Untersuchungshaft gesperrt, wenig später sein Selbstmord verkündet. Bis auf den heutigen Tag verdächtigt Miriam die Stasi mit guten Gründen, doch ohne gerichtlichen Rückhalt, Charlie ermordet zu haben. Seither wartet Miriam. Ihr stillgelegtes Leben samt der Tragik, die Mörder weder benannt noch angeklagt zu wissen, spornt Anna Funder immer wieder an.
Nicht alle Geschichten verlaufen so spektakulär schrecklich wie jene von Miriam, Charlie oder die von Frau Paul. Frau Paul musste nicht nur jahrelang von ihrem kranken Kind getrennt leben, sondern saß obendrein im Hohenschönhausener Knast, weil sie einen ihr bekannten Fluchthelfer nicht verpfiff. Es sind auch nicht alle Geschichten brandneu. Über Hagen Koch etwa, Ex-Stasi-Offizier, enthusiastischer Mauerarchivar und Berliner Unikum, ist zumindest in der Lokalpresse schon einiges geschrieben worden. Hier haben auch die Herren Fernsehjournalisten, die Funders Vorschlag abwiegeln, nicht ganz Unrecht. Es gab und gibt seit 1989 – mit unterschiedlichen Konjunkturphasen, versteht sich – durchaus immer wieder Berichte und Reportagen, die sich mit Einzelschicksalen und Vergangenheiten Ost auf Täter- wie Opferseite befasst haben, sei es, im Printbereich, von Journalisten wie Alexander Osang und Friedrich Dieckmann, sei es von Historikern wie Timothy Garton Ash. Was überraschenderweise weitgehend fehlt, sind Versuche, die menschlichen Puzzlesteine zu einem analytischen Gesamtbild zusammenzufügen.
Anna Funders Versuch gelingt, trotz und wegen ihres klammheimlichen Fasziniertseins von dem spießigen, piefigen Unrechtsstaat. Das ist unüberlesbar und wohl vertraut, wenn sie ihre leere, charmant verlotterte, kohlenbeheizte Altbauwohnung schildert. Aber auch wenn sie sich mit dem greisen Fernseh-Ekel Eduard von Schnitzler trifft oder Herrn Bock besucht, einen ganz gewöhnlichen Konspirateur, der aus alter Gewohnheit lieber im Dunkeln sitzt. Fast ließe es sich da behaglich gruseln, wenn Funder nicht so treffend schlussfolgern würde: „Meiner Meinung nach hat die Fleischeslust anderer Diktaturen, beispielsweise in Südamerika, irgendetwas Wärmeres und Menschlicheres. Die Gier nach Koffern voller Geld und Drogen, nach Frauen und Waffen und Blut ist leichter zu verstehen. Diese gehorsamen grauen Männer mit ihren unterbezahlten Informanten, die sie einmal in der Woche treffen, wirken zugleich dümmer und finsterer. Verrat hat sicherlich seinen eigenen Lohn: die kleine, tiefe, menschliche Befriedigung, jemand anderen in die Pfanne gehauen zu haben. Das ist hinterhältig, und für dieses Regime war das der Treibstoff.“ EVA BEHRENDT
Anna Funder: „Stasiland“. Aus dem Englischen von Harald Riemann. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, 350 Seiten, 24,90 Euro
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