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Vor dem Okey-Club in der Dresdner Straße lungerte eine Gruppe Jugendlicher, die Kippen zwischen den Fingern, im Gespräch mit drei Sonnenbrillen in einem offenen Sportwagen auf der Straße vor dem Club. Die Ergebnisse der ersten türkischen Fußballliga wurden übertragen.
„Ich habe gehört“, sagte Mr. Bloom, „die holen sich die dicken Autos bei einer Leihfirma, für nur ein, zwei Tage, zum Angeben. Nur so sinnlos rumfahren und dafür einen Haufen Geld ausgeben. Kein Job, aber Wagen zum Protzen mieten. Bekloppt sind die doch.“
„Ich habe gehört, da steckt viel Kohle aus dem Rauschgifthandel drin“, erwiderte Stephen ein wenig zu ruppig, und Bloom pflichtete bei: „Ja, ja, sagt man so“, dachte sich aber: Na, der weiß ja wieder alles besser. Kennt sich nicht nur in Politik und Medizin aus, jetzt auch noch im Kriminellen. Um das Thema zu wechseln, kommt Bloom auf den 1. Mai zu sprechen, denn hier auf dem Oranienplatz, den sie gerade erreicht hatten, nehmen jedes Jahr am Tag der Arbeit mit einer so genannten Revolutionären 1.-Mai-Demo die gewalttätigen Ausschreitungen im Stadtbezirk ihren Anfang.
„Ist dieses Mal eigentlich ganz glimpflich verlaufen“, sagte Bloom, „im Vergleich zu den Jahren vorher war das fast gar nichts. Keine in Brand gesteckten Fahrzeuge, keine geplünderten Supermärkte, selbst die Leute im Kiez hatten dieses Mal absolut keinen Bock auf Randale. Wenn das so anhält, gibt es nächstes Jahr nach achtzehn Jahren den ersten 1. Mai ohne Gewalt.“
„Hab gelesen, dass sie auch dieses Mal dreihundert verletzte Beamten bekannt gegeben haben“, wendet Stephen ein, „na ja, da ist wohl jeder Polizist mitgezählt worden, der sich beim Prügeln mit dem Schlagstock das Handgelenk verstaucht hat.“
„Die Taktik der Polizei war dieses Mal eine ganz andere“, redete Bloom auf Stephen ein, der stehen blieb und sich an einen Baum anlehnte, litt er doch an tödlicher allgemeiner Mattigkeit. „Kleine Gruppen von Polizeibeamten“, sprach Bloom weiter, „ohne Schilde, alle zwanzig bis dreißig Meter postiert. Da hatten die Randalierer keine Chance. Und wer trotzdem einen Stein oder eine Flasche warf, ist sofort festgenommen worden, alles dokumentiert, auf Video, beweissichere Festnahme nennen die das.“
„Gefilmt wie die Wilden haben auch die Demonstranten, wenn man von Demonstranten überhaupt reden kann. Rumstehende, müsste man wohl besser sagen, Krawalltouristen. Möchte wissen, was in diesen Köpfen vorgeht“, fügte Stephen an, „mit Politik hat das schon lange nichts mehr zu tun. Möchte auch wissen, wo diese Bilder gezeigt werden, die auf der Oranienstraße gemacht wurden. – Ein sinnentleertes Ritual, ein magischer Event für durchgeknallte Mittelschichtskinder und nicht integrierte Migrantenkids“, schiebt er hinterher.
„Ja sicher, mit Politik hat das Ganze nichts mehr zu tun“, biedert sich Bloom an, „Kreuzberger Maifestspiele sind das! Ein Freund von mir hatte schon letztes Jahr eine Idee. Den Bezirk am 1. Mai abriegeln. Wer rein will, zahlt eine Art Vergnügungssteuer, jeder Stein kostet extra. Das Geld geht an die Leute im Kiez. Könnte den Inhalt der Veranstaltung auf den Punkt bringen.“
Auf dem O-Platz, Ecke Oranienstraße vor dem Plus, trafen die beiden auf einen Straßenfeger-Verkäufer. „Interesse an einer Obdachlosenzeitung?“, fragt der.
„Nein, nein“, versuchte Bloom den Mann im angerissenen Hemd abzuwimmeln, zu seiner größten Überraschung aber wandte sich Stephen an den Verkäufer und ließ sich eine Zeitung geben. Er drückte dem Mann einen Schein in die Hand und verzichtete auf das Wechselgeld.
„Mein lieber Stephen“, sagte Bloom, „was haben Sie dem Mann da gegeben? Einen Schein kann doch so eine Zeitung auf keinen Fall wert sein! Das kann man doch gar nicht lesen, was da drinsteht. Ist doch nur Unfug. Außerdem schwindeln die immer, wenn sie sagen, sie sind Mitarbeiter der Redaktion.“
„Sie dürfen nicht immer nur das Geld sehen“, tadelte Stephen, „es geht doch auch um mehr. Wenn sich so einer an so einer Zeitung beteiligt, dann kann das nur gut sein. Gut für ihn, weil er was zu tun hat und ein paar Cent verdienen kann, gut für die anderen, weil er nicht im Park mit einer Bierflasche rumhängt und die Leute anbettelt oder anpöbelt.“
Schon wieder so ein Idealist, dachte sich Bloom. Ist ja an sich nicht verkehrt, nur, weiter bringt uns das auch nicht. Schön bekloppt, einen Schein abzudrücken. Fünf Biere werden das, wetten!
„Wenn Sie sich so eine großzügige Geste leisten wollen, mein lieber Stephen“, Bloom ergriff das Wort, „einen Falschen trifft es ja nicht. Nur lesen sollten Sie das Blatt auf keinen Fall.“
Die Oranienstraße war auch zu dieser späten Stunde voller Passanten, dem warmen Wetter geschuldet versammelten sich vor den Kneipentüren ganze Menschentrauben, jede und jeder mit einer Bierflasche in der Hand. Bloom und Dedalus, der ein wenig wirkte, als stünde er neben sich selbst, schlängelten sich durch die Menschenmasse. Im Jenseits angekommen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein Tisch nahe dem Tresen war noch frei.
Dick hing der Rauch im nicht allzu hohen Raum, ein vergilbtes Plakat neben der offenen Tür zur winzigen Küche verkündete: Neues aus der Jenseitsforschung – kein Sex im Himmel. Bloom, der hin und wieder in dieses Café gegangen war, hatte es so voll zu dieser Stunde noch nicht erlebt. Neun der zehn Tische waren belegt, babylonisch das Stimmengewirr. Bloom glaubte türkische, arabische und vielleicht auch französische Sprachfetzen heraushören zu können.
Am Tisch in der hinteren linken Ecke saß ein Mann, Mitte fünfzig vielleicht, das Gesicht zerfurcht, der Bart gestutzt, Brille, die Zähne braun. Müde, in sich zusammengesackt, starrte er in das Bierglas vor ihm, beobachtete mit leerem Blick, wie Bloom und Stephen sich zwei Tische weiter niederließen.
Der Mann erzählte jemandem, den Bloom und Dedalus nicht sehen konnten: „Ich bin 86 hierher gekommen, verstehst du, nachdem in der Türkei ein Gesetz herauskam, so eine Art Zeugenschutzgesetz: Wenn du auspackst, lassen sie dich irgendwie raus, dafür gehen dann andere rein. Da war mir klar, die wollten raus, und dann wäre ich reingekommen. Ich hatte ja immer einen Pass, ich war schon 70 bis 75 in Deutschland. Ich weiß, wie man hier rein- und rauskommt, auch ohne Visum. Man konnte von Ostberlin rein, Flughafen Schönefeld und dann Friedrichstraße, U-Bahn, und schon bist du in Westberlin. Direktflüge von Istanbul nach Berlin gab’s nicht. Da muss man nach Budapest, um nach Berlin zu kommen. Ich hatte hier Bekannte, Freunde von meinem Vater, die mir dann Tage und Wochen … also reinkommen war ganz einfach. Für Leute, die die Wege kennen.
Wie ich dann hier war, habe ich den Pass einfach weggeschmissen, mit Pass ist zu gefährlich. Wenn du mit Pass erwischt wirst, kannst du zwar sagen, dass du politisch verfolgt wirst. Das glauben sie dir dann nicht, am besten ist es, wenn man alles wegschmeißt, dann bist du namenlos, obdachlos. Dann habe ich da und dort gearbeitet – eigentlich ist es ein ganz übliches Leben, nur man hat mehr Angst als normale Menschen. Du kannst nicht irgendwie in eine Kneipe reingehen, in der zu viele Ausländer sind. Da gibt es dann Razzia, oder was weiß ich, die kontrollieren dann Ausweise – schon bist du weg. Du musst erst einmal einen Asylantrag stellen, dass du wieder freikommst, dann wissen sie aber, dass du hier bist. Ich wollte hier aber auch gar kein Asyl, ich hatte das auch nie vor. Ich war ja Politischer. Man verdient hier das Geld mit Gebäudereinigen und so weiter. Es gibt ja Firmen, die billige Arbeitskräfte brauchen, die auch keinen Stress haben wollen, die nehmen dich einfach und zahlen sehr wenig. Die nehmen dich früh im Auto mit, dann geht es in irgendeinen Bezirk, da putzt du dann Treppenhäuser, erst das eine, dann in einem anderen Haus. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn es kann ja jederzeit eine Kontrolle kommen. Heute ist es auch schwieriger geworden. Es gibt ja Leute, die hier legal sind, aber illegal arbeiten, das ist fast dasselbe Problem. Die schieben dich einfach ab, dann versuchst du, noch einmal hierher zu kommen. Im Moment habe ich solche Problem nicht mehr außer Arbeit. Die ist immer noch dieselbe wie früher. Du kannst überhaupt nicht verhandeln, egal wie besonders du bist. Ich kann zum Beispiel auf dem Bau alles, Fliesen, Trockenbau, Boden abziehen, Malerei. Ich kann das richtig gut, wie ein Geselle. Aber als ich illegal bin, habe ich nie mehr als zwölf Mark verlangt. Jetzt kann ich bis fünfundzwanzig Mark arbeiten, dieselbe Arbeit.“
Sein Tischnachbar schwieg. „Heute geht es den Bulgaren so wie mir früher. Ich hatte im Grunde auch Glück, weil ich von der politischen Arbeit viele Leute kannte. Die haben mir einen Platz beschafft, einen kleinen Raum. Vor allem die bulgarischen Türken werden heute richtig ausgenutzt. Die wohnen in Zimmern mit fünfundzwanzig Quadratmetern mit fünf bis sechs Leuten. Da sitzt man natürlich eng aufeinander, da wird es schon einmal laut, und das macht dann die deutschen Nachbarn neugierig. Ich habe das ein paarmal erlebt, einmal in der Skalitzer Straße. Ich bin da eingezogen, habe meine Möbel hingebracht, das waren ja nicht sehr viele, ein Bett, ein kleiner Kühlschrank und so weiter. Dann habe ich nach zwanzig Minuten die Türe zugemacht, bin runter gegangen, bin ins Café, etwas trinken. Wie ich dann zurückgegangen bin, habe ich gehört, wie einer ruft, so ein sechzigjähriger alter Mann, ,Hey, hey‘ und so. Ich habe dann aufgeschaut und er hat gesagt: ,Deine Frau war hier.‘ Wenn ich mit einer Türkin verheiratet wäre, hätte ich gesagt, er hat eine ausländische Frau gesehen und gedacht, dass ist die Frau von dem neuen Mieter. Ich habe dann gefragt, woher wissen Sie das denn? ,Ich habe sie gesehen‘, sagt er, ,sie ist da lang gelaufen, vor zwei Minuten.‘ Ich bin dann in die Richtung weitergelaufen und habe die Frau dann auch getroffen. Und gefragt, warst du bei mir? Hast du jemanden nach mir gefragt? Nein, sagt sie, ich habe nur zweimal geklingelt, dann bin ich weitergelaufen. Da sieht man, wie neugierig die Nachbarn sind. Nach nur zwanzig Minuten wissen sie schon, wer du bist. Wenn man dann noch in einer solchen Wohnung zu viert oder zu fünft wohnt, dann hörst du schon die Sirenen der Polizei. Das ist ganz einfach, da bist du schon weg.“
Stephen ließ sich erschöpft auf einen Stuhl aus Aluminium sinken, den Mann in der Ecke nahm er nicht mehr wahr. Am Tresen jammerte ein anderer lautstark über den geringen Umsatz, den er in der Nacht mit seiner Taxe gemacht hatte. Früher, in den Achtzigern, da hätte es sich noch gelohnt zu fahren, aber heute, die Konkurrenz, die Leute hätten kein Geld, eigentlich müsste man was Neues suchen. Die Klage verstummt, Bloom bestellt zwei Tassen Kaffee.
„Am 1. Mai macht der Wirt hier immer zu“, versuchte Bloom das Gespräch wieder aufzunehmen. „Das kann man verstehen, wenn man weiß, dass sich die Randale meist hier vor dem Fenster abspielt.“
„Nebenan, im Florian, lief das Geschäft dieses Jahr aber weiter“, mischte sich einer am Nachbartisch ein. Dem Mann hinter dem Bierglas, nennen wir ihn Holger, war deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er eigentlich vor Stunden nach Hause gemusst hätte. Mit etwas schwerer Zunge fuhr er fort: „Das war vielleicht seltsam. An der Tür steht einer, der lässt dich rein oder auch nicht. Dann sitzt du am Fenster wie im Kino. Erst siehst du nur Demonstranten, alle in Schwarz, na klar. Dann auf einmal nur Bullen. Wie ich so sitze, kommt die Wirtin, fragt: Noch’n Bier? Dann geht sie vor die Tür und macht Holzplatten vor die Fenster. Die Schienen dafür, die gibt’s seit Jahren, die sind hier vorbereitet auf den 1. Mai. Und wie’s so ist, kaum hat sie die Bretter angebracht, kommt auch schon der Wasserwerfer und spritzt auf die Fenster. Mann, da sitzt du hinter den Platten und siehst, wie die sich unter dem Strahl durchbiegen. Und da kommt die Wirtin und stellt dir dein Bier auf den Tisch.“ Holger hielt, peilte Stephen an.
„Was hast denn du am Maitag gemacht“, fragte er geradeheraus, als ob es gar nichts anderes geben könne, als am 1. Mai in Kreuzberg zu sein.
„War bei meinen Eltern“, erwiderte vage Dedalus, der keine Lust hatte, weiter über diesen unsäglichen 1. Mai zu reden. „Der Kaffee ist gut“, lobt er in Richtung Bloom, „genau das Richtige jetzt.“
Bloom tat es mittlerweile Leid, dass er das Thema 1. Mai wieder aufgegriffen hatte, denn der Tischnachbar drehte auf: „Ist doch klar, dass die Kids die Sau rauslassen. Kein Job, kein Geld. Die lassen den Kiez hier doch vor die Hunde gehen, das Geld pumpen sie nach Mitte, musst dir nur angucken, was die da gebaut haben. Und die Bullen sollen dafür sorgen, dass hier alles schön ruhig bleibt und die Leute den Scheiß hier auch fressen. Nee, kein Mitleid.“
„Und deshalb kloppt man den eigenen Kiez kaputt?“ Stephen sprach ziemlich leise, so als ob er gar nicht wollte, dass sein Gegenüber den Einwand hörte. Ob Stephen es wollte oder nicht, das Gespräch brach ab, als Holger sich in einer Art Anfall abrupt hochwuchtete, auf den Tresen zuschoss und dem Wirt entschlossen ein „Zahlen!“ entgegenschleuderte. Holger steckte das Wechselgeld ein, sank ein wenig in sich zusammen und strebte schwankend in Richtung Ausgang.
In der hinteren Ecke fuhr der Mann mit dem zerfurchten Gesicht fort: „Sehen Sie, Lyons, ich bin sehr vorsichtig geworden, vielleicht zu vorsichtig. Ich war nur, wenn es dunkel war, zu Hause, damit mich niemand sieht oder erkennt, dass ich dunkelhäutig bin. Oder ich bin ganz früh aus dem Haus gegangen, damit mich keiner sieht. Wenn im Treppenhaus das Licht brennt, habe ich erst einmal gewartet, dass es wieder dunkel wird, damit ich auf der Treppe niemandem begegne. Für mich war es ein bisschen leichter als für die aus Bulgarien. Ich glaube, der Staat will auch, dass die Schwarzarbeiter hier existieren. Jetzt bauen sie hier die Hauptstadt, mit normalen Löhnen wären die Häuser dreimal teurer. Und dann diese dreckigen Unternehmer. Unternehmer, wie sich das schon anhört. Du kennst jemand, der jemanden kennt, der vermittelt dich. Bist du dann auf dem Bau, dann lernst du die anderen, die Sub-Subunternehmer kennen. Die sehen, dass du bestimmte Sachen gut kannst, und so einen brauchen die. Gehst du zu einer anderen Firma, dann ist die Firma, für die du vorher gearbeitet hast, sauer auf dich. Du kannst nicht so weiteres die Firma wechseln. Wenn du woanders hingehst, kann es sein, dass sie dich beim Arbeitsamt verpfeifen. Nur so kommt es, dass sie ab und zu mal Schwarzarbeiter, Illegale oder Auswanderer aufgreifen. Als Illegaler bin ich nur einmal erwischt worden. Da ist aber nicht so viel passiert. Nachdem sie mich erwischt haben, haben sie mich in den Knast gesteckt. Dann haben sie mich in Abschiebehaft genommen. Ich habe dann Asylantrag gestellt, und nach drei oder vier Tagen haben sie mich dann freigelassen. Manchmal denke ich, sie wollen nichts gegen Schwarzarbeit oder Illegale machen. Dann aber wollen sie einem immer mal wieder Angst machen, damit nicht alle armen Schweine hierher kommen.“
Die Enthüllungen in der Ecke erreichten einen Höhepunkt: „Ich kenne eine Firma, die arbeitet mit Bulgaren. Die Bulgaren arbeiten ein Jahr, dann gehen sie weg, und nach zwei Jahren, wenn das Geld wieder weg ist, kommen sie zurück. Der Firmenchef hat zwei Wohnungen gemietet. In der können sechs, sieben, acht Leute wohnen. Die Wohnungen sind schon dreimal durchsucht worden. Sie werden aber nur dann durchsucht, wenn der Typ es will. Der lässt die Leute erst einmal arbeiten, gibt ihnen monatlich 500 Mark und sagt, im Moment ist mehr Geld noch nicht da, weil die Auftraggeber nicht gezahlt haben. Ist aber Quatsch. Irgendwann schuldet er den Leuten, sagen wir einmal, zwanzigtausend Mark, jedem. Er hat das Geld ja schon in der Tasche. Und wenn er es nicht ausgeben will, dann ist das Beste: Bullen anrufen. Ein Telefonat bringt zwanzigtausend Mark.
Wenn du Illegaler bist, musst du jede Arbeit machen. Du gehst in ein Klo und steckst die Hand in einen Haufen Scheiße. Du kannst nicht sagen, ich fasse die Scheiße nicht an. Irgendjemand muss sie anfassen, so oder so. Und wenn du der Illegale oder Schwarzarbeiter bist, kannst du überhaupt nicht Nein sagen. Du fragst dann höchstens nach Handschuhen, und wenn er gutmütig ist, dann bekommst du welche. Zehn Stunden arbeiten musst du auch, mindestens. Du kriegst auch keinen Stunden-, sondern einen Tageslohn, mal achtzig mal hundertzwanzig Mark waren das vor ein paar Jahren, das kommt drauf an, wie gut du bist und was du kannst. Ich meine, du denkst, dass du es kriegen kannst. Den Typen kriegen sie nicht. Der hat die Wohnung, aber nicht auf seinen Namen, sie läuft auf die Namen von Leuten, die nicht mehr in Deutschland leben. Und an der Wohnung verdient er natürlich auch, von jeder Person zweihundert Mark monatlich mindestens. Die Wohnung ist eine dreckige Bude, kein Bad, nicht renoviert, kostet ihn keine dreihundert Mark, und er macht zwischen neunhundert und zwölfhundert Gewinn. Ein Zehntel von deinem Lohn zahlst du schon als Miete.“
Stephen griff schweigend nach einer Zeitung, die einer, offenbar Holger, auf dem Nebentisch hatte liegen lassen. Bloom sah zu, wie Dedalus das Blatt aufschlug und ihm dabei die Titelzeile zuwandte. US-Soldaten foltern Gefangene in Irak, stand da geschrieben, und Bloom schoss durch den Kopf, nimmt das denn nie ein Ende?
„Hätten Sie sich das vorstellen können, lieber Stephen, da treten die Amis an, den ganzen Nahen Osten zu demokratisieren, sie stürzen Saddam Hussein, um dann in dessen Gefängnissen das zu tun, was Saddam auch schon gemacht hat: Menschen foltern.“
Irritiert schreckte Stephen auf, er rätselte über den Begriff Antideutsche, den er soeben gelesen hatte, in einem Artikel im Lokalteil, in dem über Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Arabern und ebendiesen Antideutschen berichtet wurde. So weit er es verstanden hatte, war eine Gruppe erwachsener Deutscher gegen eine Demonstration arabischstämmiger Migrantenkids vorgegangen, die gegen Israels Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten protestiert hatten. Schon verrückt, dachte er, wie kann man als angeblicher Linker nur an der Seite Israels die Unterdrückung der Palästinenser rechtfertigen?
„Im Krieg ist alles möglich“, äußerte Stephen nach einer Weile. Langsam ließ er die Zeitung sinken. „Glauben Sie, werter Bloom, deutschen Soldaten könnte das nicht passieren? Erinnern sie sich nur an die Neonazi-Videos, die in deutschen Kasernen gedreht wurden. Im Krieg, da fallen die Grenzen der Menschlichkeit.“ Dedalus griff zur Kaffeetasse, undeutlich vermischten sich in seinem Gehirn die Bilder gefolterter irakischer Gefangener und grinsender amerikanischer Soldatinnen und Soldaten. „Folter ist Teil der Kriegsführung“, dozierte er weiter, „der Gegner muss gedemütigt werden, ohne Demütigung, ohne Unterwerfung ist der Sieg kein Sieg.“
Bloom störte sich am oberlehrerhaften Ton, den Stephen angeschlagen hatte. „Wie auch immer“, sagte er und nahm sich vor, das Thema zu wechseln, „an der Suppe werden die Amerikaner noch lange zu löffeln haben, die sie sich da im Irak eingebrockt haben. Das kommt davon, wenn man einen Krieg vom Zaun bricht, obwohl fast alle Welt dagegen gewesen ist.“
Stephen, offenbar verdrießlich gestimmt, wiederholte: „Demütigung muss sein“, und schob seinen Becher Kaffee, oder wie immer man den Inhalt bezeichnen würde, beiseite, indem er nicht allzu höflich hinzufügte:
„Wir können die Politik nicht ändern, ändern wir also das Thema.“
Bloom zuckte die Achseln, erblickte die übrig gebliebenen erbärmlichen Croissants, die in einem Korb auf dem Tresen lagen. Dabei fiel ihm ein, dass er und Stephen seit Stunden, genauer seit mehr als einem Tag, nichts zu sich genommen hatten. Zu Ende reden könne man auch woanders. Bereitwillig ließ sich Dedalus von Bloom auf einen Happen in dessen nahe gelegene Wohnung einladen. Bloom zahlte. Beide verließen das Jenseits.
Hinten setzte der traurige Exilillegale seinen Monolog fort: „Vor zehn Jahren habe ich mich besser gefühlt als jetzt. Ich hatte mehr Lust am Leben. Jetzt weiß ich, es kann nicht viel passieren. Kein Adrenalinstoß, gar nichts. Höchstens, wenn ich jemanden prügeln will oder was weiß ich. Damals war es fast jeden Tag, wenn ich einen Polizeiwagen gesehen haben, wenn Licht im Treppenhaus war oder wenn jemand bei dir klingelt. Das war das Schlimmste, Lyons! Wer ist das, wer klingelt? Wenn du Illegaler bist, denkst du, ich bin verloren, wenn es klingelt. Ich habe auch schon mal Bullen die Türe aufgemacht, als ich noch illegal war. Da waren auf einmal ziemlich viele Bullen im Treppenhaus. Und als es dann klingelte, dachte ich, die kommen sowieso rein, auch wenn ich nicht öffne. Ich habe dann die Türe geöffnet und habe dann gehört: ,Im Nebenhaus ist Feuer, Sie müssen ihre Wohnung verlassen.‘ Sage ich, ja, ich nehme noch meine Jacke, und dann schnell weg, sonst fragen die noch: Hast du einen Ausweis? Ist mir drei mal passiert, dass sie mich auf der Straße nach einem Ausweis gefragt haben. Scheiß Land hier, aber ich kenne kein besseres.“
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