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08.00

Am liebsten aß sie vorher dunkelbraun angebratene Rouladen, mit Gurken, fettem Speck, viel Zwiebeln und Senf gefüllt und lange geschmort. Die Soße mit Kartoffeln, Erinnerung an sichere Kindheitstage, kleines überschaubares Leben. Nachdem der Junge so früh aus seinem und ihrem Leben weggegangen war, aß sie drei Jahre lang kein Fleisch mehr. Alles Tote war ihr zuwider.

Heute, nach vier, fast fünf Jahren hatte sich das gelegt. Kürzlich hatte sie in der Solmsstraße ein Ladenfenster gesehen, wo in schönster Schreibschrift stand: „Zeit heilt alle Wunden“. Sie sollte dazuschreiben: „Wie geht’s den Narben?“

In Wien war sie schwach geworden beim Anblick der riesigen flachen knusprig panierten Schnitzel. Seitdem genoss sie wieder ohne viel Nachdenken zartes, kross gebratenes oder eingelegtes Fleisch, am liebsten kombiniert mit asiatischen Zutaten.

Ihr Freund, der nebenan in regelmäßigen Atemzügen laut schnarchte, stand mehr auf europäische Hausmannskost. Wildschweinbraten hatte sie letztens gemacht, vorher eingelegt in Buttermilch und dann in Rotwein geschmort. Köstlich, köstlich.

Sie überlegte, was fürs Frühstück noch fehlte. Hackepeter mit Zwiebeln und frische Brötchen vielleicht, das aß er doch ganz gerne.

Durch die Schichtarbeit kann der alte Schnarchsack zu jeder Tages- und Nachtzeit ratzen. Sie schlief eher zu wenig, hatte immer das Gefühl, etwas zu verpassen, und musste sich zum Schlafen überreden. Aus Gesundheitsgründen. Fast wie bei Zuckerkranken. Wenn nicht genug Insulin oder Schlaf, dreht der Körper, der Kopf ab. Deswegen foltert man Gefangene auch mit Schlafentzug. Und man sieht keine Blutergüsse.

Der Kater scharwenzelte maunzend in der Küche vor ihren Füßen herum. Er schrie sie förmlich an. Während der Diplomarbeitszeit hatte er in ihre Schreibmaschine gepinkelt. Tiere können sich beschweren und rächen. Sie gab dem schwarz-weißen Tier (als wenn er einen Frack anhätte) etwas Trockenfutter. Mit kleinen, spitzen, weißen Zähnchen knackte er gierig die kleinen braunen Ringe. Verursachen Nierensteine. Machen süchtig. Er bedankte sich mit zufriedenem Schnurren und stellte beim Streicheln über den Rücken freudezitternd den Schwanz hoch. Der Kater ihres Bruders hatte irgendwann bei einem Kampf seinen Schwanz verloren. Sie nannten ihn Stummel. Er konnte nicht mehr zielgenau springen und schaffte es nie allein auf einen Stuhl. Er landete immer schräg daneben.

Wo gehe ich hin einkaufen? In die Marheineke-Markthalle oder auf den Öko-Markt am Chamissoplatz? Öko-Markt hat kein Hackepeter, und Fleisch ist mir zu teuer. Das leiste ich mir nur einmal im Jahr von da. Aber Eier kaufe ich meistens und Blumen. Manchmal auch Gemüse. Kurz nach dem Ersten geht das noch. Schmeckt besser.

Vielleicht bei Knofi und dem Türken in der Bergmannstraße vorbei. Zu Drospa muss ich zum Glück nicht. Samstags stapeln sich da immer die Leute. Furchtbare Enge. Erstaunlich, dass alle so geduldig mitmachen. Gut dressiert, die Leute.

Bei dem Kleine-Preise-Plus war sie letzte Woche extra früh gewesen in der Hoffnung, dass es dann schneller ginge. So ein Lacher. Sie hatten nur eine Kasse aufgemacht, und sie wartete genauso lange wie mittags. Die Angestellten an den Kassen sind auch nur arme Willis. Richtig sauer wurde sie nur regelmäßig beim Postamt. Grottenlangsam, immer lange Warteschlangen, das war schon seit fünfundzwanzig Jahren so. Tom hat Recht mit den Spinnweben. Keine Besserung in Sicht. Sollen mal ruhig an die Börse gehen. Da werden sie die Quittung schon kriegen.

Leise zog sie die Wohnungstür zu und ging langsam die Treppen herunter, noch mal in den Taschen nach Zettel und Portemonnaie suchend. Wurde auch nicht besser mit dem Gedächtnis. Sie schlenderte von der Arndtstraße die Nostitzstraße herunter bis zur Bergmannstraße, bog rechts ein. Ararat noch zu. Beim Mexikaner bereiteten sie das Frühstücksbüfett vor. Im Atlantic-Café wurde sauber gemacht von gestern Nacht. Das Reformhaus macht erst um neun Uhr auf. Nur die türkischen Ladenbesitzer schleppen schon ihre Kisten nach draußen. Schnell ein paar Zucchini und Auberginen. Geschäftstüchtig und fleißig, die Leute. Ob die mal ganz klein angefangen haben? Oder gibt es eine türkische Gemüsemafia? Bei Knofi Mittelmeerspezialitäten. Die ham’s raus. Vergrößern sich dauernd. Jetzt hat auf der anderen Straßenseite noch ein Ableger von ihnen aufgemacht. Immer freundlich, immer lockende Musik. Als Innendekoration ist alles behängt mit getrockneten Auberginen. Besuch aus der Kleinstadt wird regelmäßig dort hineingeschleppt.

Wenn sie doch endlich selber die zündende Idee hätte für ein neues verkaufsträchtiges Produkt. Seit Jahren grübelte sie darüber nach. Irgendeine Erfindung. Weil ihr nichts Besseres einfiel, sie immer noch an die Wirkung geschriebener Worte glaubte und Schriften und Buchstaben liebte, war sie mittlerweile Jahrzehnte bei der Zeitung und hoffte immer noch mit Schicksalsergebenheit auf den großen finanziellen Durchbruch.

In diesem Bezirk schlafen die Leute Samstags aus, und erst gegen elf Uhr wird es voller auf den Straßen und in den Läden. Dann tummelt sich wirklich alles, was Beine und Kinderwagen- oder sonstige Räder hat. Bunte Mischung, jede Altersstufe, verschiedenste Nationen, Alternativis, Schicki-Mickis, Rastas, Otto Normalos, kaum Kampfhunde oder Trainingshosen. Viele renovierte Gründerjahre-Häuser mit verschnörkelten Fassaden. Hier wollte sie schon immer wohnen.

Trotzdem stinken ihr die dreckigen Bürgersteige. Sie hatte erwartet, dass es sauberer werden würde, nachdem die Bonner nach Berlin gekommen waren. Kriegen die überhaupt was hin? Wohnen nicht zur Miete mitten in der Stadt. Entweder Häuschen in Bad Godesberg oder draußen im Speckgürtel.

So, jetzt schnell in die Halle zum Fleischer. Da sind noch mehr Frühaufsteher. Es gibt zwei Verkäufer. Vor mir habe ich nur einen kleinen weißhaarigen Herrn. Er ist um die siebzig, dünn und summt lächelnd vor sich hin. Holt sich Parmaschinken. Beim Weggehen verstehe ich sein Gesumme: „Rejoyce, rejoyce, rejoyoyoyce greatly“, kenn ich doch. Händel, Messias. Höre ich eigentlich immer nur Ostern. Vielleicht sollte ich mir nachher mit meinem neuen Sennheister-Kopfhörer das Hallelujah um die Ohren hauen. Kommt immer wieder gut, auch wenn man längst nicht mehr glaubt.

Endlich ich mit meinem Hackepeter und anderthalb Pfund Würstchen. Elektro-Grill funktioniert sogar in der Küche am französischen Fenster. Da ist ja der Mann aus dem Nebenhaus am Fleischstand. Ganz in Schwarz und mit Regenmantel, obwohl es heute richtig warm werden soll. Vielleicht eine Beerdigung. Was starrt er mich so von der Seite an? Der rennt hier mit Hut rum. Nimmt ihn ab, ist ihm wohl doch zu warm. Er holt ein Stück Papier aus dem Hut und steckt es wieder weg. Ob das sein Einkaufszettel ist? Vielleicht hat er Löcher in den Taschen. Was er wohl bestellt? Er will Niere. So was Altmodisches. Vor dreißig Jahren hatte sie das letzte Mal Nieren gekauft. Nierchen waren fast das Billigste, was es zu kaufen gab. Außerdem mochte sie diese ungewöhnlich zarte und doch feste gummiartige Konsistenz. Zunächst hatte sie sie gewässert und dann in der Pfanne gebraten. Die ganze Küche war voller Dunst und die Wohnung stank tagelang nach Urin. Danach gab es nie mehr Nierchen. Eigentlich sollte ich es mal wieder probieren. Schade, er hat die letzte gekriegt. Netter Verkäufer.

„Auf Wiedersehen. Schönes Wochenende“.

Schnell wieder Richtung Heimat. Der man in black schaut mir so komisch nach. Nachbarin Frau Werner hat mir von ihm erzählt. Sie ist Witwe, schon sehr lange allein, über 80, noch ziemlich agil, klein, immer blass, fast durchscheinend und immer süchtig nach einem Schwatz. Wenn ich zur Arbeit muss und den Schlüssel im Schloss (leise!) drehe, scheint sie hinter ihrer Wohnungstür zu lauern, springt heraus und ich komme wieder zu spät. Trotzdem ganz nützlich. Gibt es eventuell neue Erkenntnisse über die kürzlich eingezogenen Mitmieter im Haus? Die Leute über ihr haben viel Besuch und rennen nachts mit Schuhen auf den abgezogenen Dielen herum, heutzutage hat man ja keine Teppiche mehr. Sie hat die halbe Nacht kein Auge zugetan. Neulich erzählte sie mir von dem im Nebenhaus, verkauft Anzeigen. Hat er sie gefragt, ob sie vielleicht jemanden kenne, der was verkaufen wolle. Bloom, komischer Name, hat eine Sängerin zur Frau. Übt manchmal zu Hause. Kommt aus Gibraltar. War mal eine Schönheit. Bis vor kurzem lebte auch die junge Tochter mit in der Wohnung. Hat wohl eine Arbeit außerhalb gefunden. Hauswartsfrau wusste da Bescheid.

Blooms Frau soll angeblich nicht ohne sein. Künstler eben, ein besonderes Völkchen, machen sowieso was sie wollen. Aber er sieht ganz ordentlich aus, und grüßt sie seitdem auch immer.

Ich sag dann meist „ach was“, und „jeder soll doch nach seiner eigenen Facon …“

Solange mich keiner stört, ist alles in Ordnung. Aber erst persönlich miteinander reden, wenn was nicht stimmt. Wenn es doch zu krass wird, ruf ich die Grünen. Mittlerweile kenn ich da keine Verwandten mehr. Oder vielleicht gerade, weil einer meiner Brüder bei der Polizei arbeitet. Ist doch ihr Job. Sollen sie ruhig mal die einfache Bürgerin schützen. Er spricht immer von seinen Kollegen als „Schutzleute“. Na denn. Früher, als er noch in der Ausbildung war, beim Bereitschaftsdienst, wurden sie eingesetzt zum Schutz der AKWs. In Grohnde hätte er beinahe was abgekriegt. Sie hatte in Brokdorf auf der anderen Seite demonstriert. Jahrelang hatten sie nicht miteinander geredet. Jetzt war es zum Glück wieder normaler geworden zwischen ihnen. Sie beneidete ihn ein bisschen um seine gut geratenen Kinder und er sie um ihre halben Weltreisen. Man kann nicht alles haben im Leben und jeder macht das, was er am besten kann. Vielleicht hätte sie Reiseleiterin werden sollen.

Im Briefkasten eine kurze Nachricht von der Nichte. Wieder verliebt. Hoffentlich hat sie dieses Mal mehr Glück. Ein sensibles, hilfsbereites Mädchen, sieht gut aus mit ihren achtzehn Jahren und die Jungens, die sie hat, sind meist solche Dämel. Hat sie doch nicht nötig.

Sie schloss leise die Haustür auf. Der Schläfer murmelte irgendwelche unverständlichen Worte. Vielleicht wacht er auf vom Krach im Badezimmer. Mit Toilettenspülung wecken. Meistens ging sie erst dorthin, wenn sie es nicht mehr aushalten konnte. Andere lesen halbe Romane dabei und blockieren stundenlang alles. Sie empfand das als Zeitverlust. Hämorrhoiden kriegt man leicht bei Verstopfung. Seit sie auf die Ernährung achtete und viel Wasser trank, flutschte es.

Das war ein Reinfall gewesen bei der ersten gemeinsamen Reise. Ägypten. Er verabschiedete sich bei der romantischsten Vollmondnacht am Nil (Assuan, Agatha Christies Super-Hotel) leise, aber bestimmt, in sein Bett. Er ging nicht mit runter in die Gräber im Tal der Könige. Er war schlecht gelaunt, und im Bett passierte auch nichts. Sie war ratlos. Fünf Kilo hatte sie extra vorher abgenommen. Zu Hause rückte er endlich mit der Sprache heraus. Hämorrhoiden. Heute lachten sie darüber.

Gestern hatte er sie gefragt, ob sie das Wort Metempsychose kenne. So was ähnliches wie Inkarnation. Damit hatte sie sich schon mal beschäftigt. Nachdem der Junge tot war. Damals war er gerade achtzehn geworden. Er war ein sehr gut aussehender, dunkelhaariger, empfindsamer junger Mann. Sie hatte ihn aufwachsen sehen und liebte ihn wie einen kleinen Bruder oder ein Adoptivkind. Ein paar unglücklich verlaufende Versuche mit Mädchen hatten niemanden beunruhigt. Zum achtzehnten Geburtstag schenkte sie ihm einen Tauchkurs und wunderte sich schon bei der Feier, dass er so still geworden war. Über seinen Anzug und Schlips hatte sie sich noch lustig gemacht. Beim Tauchkurs übernachteten sie gemeinsam im Zelt. Kein Atemzug war von ihm zu hören. Mucksmäuschenstill, der große Kerl. Niemand bemerkte in den folgenden Monaten sein Abdriften in tiefste Depression. Nachdem er sich das Leben genommen hatte ohne Abschiedsbrief, suchten sie verweifelt nach Gründen. Jemand meinte, er sei in einem früheren Leben bestimmt ein Krieger gewesen, der in seiner Reinkarnation nur kurz auf dieser Erde einen Auftrag habe ausführen müssen. Er würde nun bestimmt wieder in anderer Gestalt auf der Welt erscheinen. Ein Lama sprach von schlechtem Karma (reimt sich fast). Es hatte zwar eine gewisse kurze, tröstliche Wirkung, aber das immer wiederkehrende ungläubige Entsetzen und die Verzweiflung darüber, Signale nicht richtig gedeutet zu haben, blieb. Dass Depression eine Krankheit ist, die bei rechtzeitiger Erkennung nicht zum Tode führen muss, weiß sie jetzt.

Wenn sie einen hoch aufgeschossenen jungen schwarzhaarigen Mann mit sehr großen dunklen Augen sieht, oder wenn sie einen angenehmen Menschen mit weicher Stimme kennen lernt, muss sie an ihn denken. Er ist noch da, auf die eine oder andere Weise.

Der Schläfer ist wach. Sie kocht Tee.

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