: Schulbücher für Ärmste über Gebühr
Sozialarbeiterinnen warnen vor Lücke in neuer Lernmittelverordnung: Wer arbeitet, aber weniger Geld hat als ein Hartz-IV-Empfänger, muss für Schulbücher zahlen. Behörde erklärt, Schulleiter sollen „im Einzelfall“ Ausnahmen machen
Von Kaija Kutter
Ihre BesucherInnen sind so arm, dass sie von der Schulbuchgebühr befreit werden. Davon waren die Sozialarbeiterinnen Morassa Mazloumsaki-Schütt und Ulla Kutter des Kinder- und Familienzentrums (Kifaz) in Schnelsen-Süd bisher fest ausgegangen. Doch der Blick ins Kleingedruckte der neuen Lernmittelverordnung anlässlich einer für heute geplanten Info-Veranstaltung schreckte sie auf. Zwar sind dort Empfänger von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe von der Gebühr ausgenommen, nicht aber Familien, die einfach nur arm sind, weil sie wenig verdienen.
„Uns fallen auf Anhieb 20 Familien ein, die weniger Geld haben als eine ALG-II-Familie“, berichtet Mazloumsaki-Schütt. Doch nach Rücksprache mit Schulleitern sehe es nun so aus, als ob diese Familien zur Kasse gebeten werden, weil in der Lernmittelverordnung eine Lücke existiert. Betroffen seien Familien mit vielen Kindern, in denen die Mutter bewusst zu Hause bleibt. Das Ehepaar N. zum Beispiel hat für sich und seine drei schulpflichtigen Kinder nach Abzug der Miete noch etwa 1.100 Euro zum Leben. Herr N. arbeitet auf einer vollen Stelle als Gabelstaplerfahrer und verdient 950 bis 1.000 Euro netto. Dazu kommen rund 700 Euro Kinder- und Wohngeld, die fast vollständig von der Miete aufgezehrt werden. Ein Ehepaar mit drei Kindern, das ALG II bezieht, hat 1.243 Euro zum Leben, über 100 Euro mehr.
„In unserem Stadtteil gibt es eine Arbeitslosenquote von 30 Prozent“, berichtet Mazloumsaki-Schütt. „Doch die gleiche Menge von Leuten lebt von Löhnen auf eben diesem Niveau – im Reinigungsbereich, als Taxifahrer oder in der Gastronomie.“
„Wenn Eltern mir ihren ALG-II-Bescheid vorlegen, kann ich sie von der Gebühr befreien“, erklärt ein Schulleiter der taz, „haben sie einen Job, muss ich ihnen eine Rechnung stellen“. Dass es hier eine Gerechtigkeitslücke gibt, wurde bereits Ende April auf einer Info-Veranstaltung der Bildungsbehörde thematisiert. Die Behördenvertreter wiegelten damals ab, man arbeite an einer „Regelung“, habe aber noch keine Kriterien gefunden.
Doch die Sache brennt. Vier Wochen vor den großen Ferien beginnen jetzt an vielen Schulen die Fristen für Eltern, um die Gebührenbefreiung zu beantragen. Behördensprecher Alexander Luckow verweist derweil auf einen anderen Passus der Verordnung, der besagt, dass auch Familien, die „andere“ Sozialleistungen erhalten, davon befreit werden. Dazu zähle nicht das Wohngeld, wohl aber der seit Januar 2005 eingeführte „Kinderzuschlag“, den eben die Familien erhalten sollen, die trotz Erwerbsarbeit unter dem ALG-II-Satz liegen. Sozialberaterin Kutter jedoch macht die Erfahrung, dass die Kinderzuschlagsanträge der Schnelsener Eltern fast immer abgelehnt werden, weil das Gesetz restriktiv ist. Kutter: „Von 40 wurde vielleicht einer genehmigt.“ Für diese Fälle verweist Luckow auf eine Härtefallklausel, die es Schulleitern „im Einzelfall“ erlaubt, nach Rücksprache mit der Schulbehörde auf die Gebühr zu verzichten.
Für SPD-Fraktionsvize Britta Ernst ist das keine Lösung. „Es gibt eine Gerechtigkeitslücke bei geringen Einkommen“, sagt sie. Dies zu korrigieren könne aber nicht „Ermessensentscheidung“ des Schulleiters sein: „Da brauchen wir eine klare Regelung.“
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