blinder passagier von JOACHIM SCHULZ
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„O Mann, du musst mir helfen!“ Warum nur kriege ich diesen Satz immer wieder von Raimund zu hören? Wieso manövriert gerade er sich andauernd in höchst vertrackte Situationen? Und weshalb vermasselt er nicht mal einem anderen seiner zahlreichen Freunde einen ruhigen Abend?

Fragen über Fragen – doch nicht der rechte Zeitpunkt, um sie zu stellen. Stattdessen sage ich: „Komm erst mal rein und beruhige dich!“ Das aber passt ihm nicht. „Keine Zeit!“, keucht er: „Er sitzt draußen im Wagen und scheint nie wieder aussteigen zu wollen. Wir müssen was unternehmen!“ – „‚Er‘?“, sage ich: „Wer ist ‚Er‘?“ – „Der alte Mann“, antwortet Raimund. Ich runzle die Stirn. „Was für ein alter Mann?“ – „Keine Ahnung, er hat sich nicht vorgestellt. Er murmelte bloß: ‚Bringen Sie mich hier weg, ich bitte Sie!‘, und hat seitdem kein Wort mehr gesagt.“

Ich verdrehe die Augen. „Zur Hölle“, rufe ich, „jetzt sag mir endlich, wie er in dein Auto kommt! Hat er sich plötzlich materialisiert wie ein Flaschengeist? Hat er dich mit einem Gemüsemesserchen bedroht und geknurrt: ‚Dies ist eine Entführung!‘? Hä? Erklär’s mir!“

Zehn Minuten später sehe ich allmählich klarer: Raimund also hatte einen Freund auf dem Land besucht und stoppte auf der Rückfahrt in einem kleinen Dorf, um Zigaretten zu ziehen. Als er zum Wagen zurückkam, saß der alte Mann auf dem Beifahrersitz und flehte ihn an, ihn doch bitte mitzunehmen.

„Ähm“, machte Raimund verdattert: „Wo wollen Sie denn hin?“ Der alte Mann lehnte sich zurück, schloss die Augen und antwortete nicht. Raimund blickte sich um. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, die Fenster der Häuser allesamt dunkel. „Man wird Sie doch vermissen“, sagte er. Der alte Mann antwortete nicht. Raimund begann zu schwitzen. „Verstehen Sie, ich will keine Schwierigkeiten!“ Der alte Mann aber sagte nichts, schien zu schlafen – und Raimund fuhr los.

„Heilige Einfalt!“, stöhne ich: „Bist du völlig plemplem?“ – „Was sollte ich tun?“, jammert Raimund: „Ihn wieder auf die Straße schubsen?“ – „Was weiß ich!“, entfährt es mir: „Aber wenn du schon so einen Blödsinn machst – warum kommst du damit zu mir?!“ Schon sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie wir ihn aus dem Auto bugsieren und ich der Liebsten, sobald sie vom Nachtdienst zurückkehrt, erklären kann, warum wir bis auf weiteres einen Untermieter haben. „Nein!“, sage ich energisch: „Lass mich damit in Ruhe!“ – „Du kannst doch wenigstens mal mit ihm sprechen“, bettelt Raimund, und ich sage: „Also gut. Aber vorher rufen wir die Polizei. Die wird für solche Fälle ja hoffentlich zuständig sein.“

Als wir das Haus verlassen, schnürt der Polizeiwagen bereits um die Ecke. Was aber fehlt, ist der alte Mann auf dem Beifahrersitz. „Raimund!“, zische ich: „Was soll das bedeuten?!“ – „Ups! Keine Ahnung“, sagt Raimund, „vielleicht vertritt er sich nur die Beine und kehrt gleich zurück.“

Doch das ist nicht der Fall, und so kommt es, dass wir den Rest des Abends auf dem Polizeirevier verbringen dürfen, um uns einer ausführlichen Vernehmung zu unterziehen, in der selbstverständlich auch die Frage nach unserer Geistesgesundheit nicht ausgespart wird.