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Chile: Viel Protest und wenig Streik

■ Tränengas für die Innenstadt, Gewehrkugeln für die Armenviertel / Die Militarisierung der Politik treibt einen Keil in die Opposition Der von der Bürgerversammlung erwartete offizielle Streikaufruf war ausgeblieben

Aus Santiago Iris Stolz

Donnerstagvormittag im Zentrum Santiagos: Wer nicht weiß, wieviel hier normalerweise los ist, der könnte meinen, dies sei ein normaler Wochentag: Straßenverkäufer preisen ihre Ware an, und die meisten Geschäfte sind geöffnet. Nur die ungewöhnlich vielen Polizisten und Wasserwerfer weisen darauf hin, daß heute ein besonderer Tag ist. Die linken Parteien, die Gewerkschaften und andere Organisationen haben wieder zum Protest und Streik gegen die Diktatur aufgerufen. Kurz vor zwölf wird den Passanten auf dem Zentralplatz das Herumstehen verboten: „Circular!“, befehlen die Polizisten. Aber dennoch findet sich um genau zwölf Uhr ein Grüppchen und stimmt die Nationalhymne an: „Geliebtes Vaterland, entweder wirst du das Grab der Freien sein oder Asyl für die Unterdrückten...“ Darauf hatte die Polizei gewartet: Wasserwerfer, Tränengas und Gefangenentransporter sind von nun an unermüdlich im Einsatz, um die sich überall bildenden Gruppen am Singen zu hindern. Trotzdem hört man über zwei Stunden lang immer wieder sowohl die traditionelle als auch die neue Nationalhymne: „Y va a caer“ (“und er wird fallen“). Einige dynamische Straßenhändler stellen sich sofort auf die Situation ein. Sie verkaufen Zitrone mit Salz. Für die Innenstadt Polizei, Wasserwerfer und Tränengas, für die Armenviertel Militär und Gewehrkugeln. Die militärische Bilanz des Protests: 220 Festnahmen, zahlreiche Verketzte und ein toter Mann im Badeort Vina del Mar, der nach Angaben der Poli zei versucht hat, zusammen mit zwei bewaffneten Komplizen einen vollbesetzten Bus zu entführen. In Santiago wurde ein Polizist angeschossen und ein weiterer durch eine Bombe schwer verletzt, als er eine von Demonstranten errichtete Barrikade wegräumen wollte. Ein weiterer Sprengsatz in der U–Bahn der Hauptstadt forderte zwei Verletzte unter dem Sicherheitspersonal.Zwei Polizisten und ein Kind wurden verletzt, als Demonstranten in La Bandera ein Polizeifahrzeug angriffen. In Concepcion, 500 km südlich von Santiago explodierten mehrere schwere Bomben und richteten beträchtlichen Sachschaden in den staatlichen Kohlewerken und in einer Fabrik an. Der Militärattache der israelischen Botschaft blieb nach einem Anschlag unverletzt. Auch das Auto des Bischofs von Unbekannten beschossen. Die Poblaciones Lo Hermida und La Faena wurden bereits am frühen Morgen von Militärs durchkämmt. Zahlreiche Gewehre und Sprengkörper seien dabei gefunden worden, behauptet die offizielle Pressestelle der Regierung. Die immer häufigeren Hausdurchsuchungen werden mit dem Kampf gegen Terror und Verbrechen begründet. In der Nacht nahm der Militäreinsatz wieder sein altes, übliches Ausmaß an: viele Armenviertel wurden umstellt, in einige drangen Soldaten ein, schossen mit Kugeln und Schrot die Stille wieder herbei. Die meisten der 220 Festgenommenen sind Bewohner der Armenviertel. „Wir wissen“, sagt Claudina Nunez vom CUP, einer Organisation der Armenviertelbewohner, „daß immer sie es sind, die bei den Protesten am meisten riskieren und auch die höchste Rechnung bezahlen. Das tut uns in der Seele weh, aber kann uns nicht davon abhalten.“ Ganz alleingelassen wurden die Protestler aus den Armenvierteln am Donnerstag nicht. Auch in der Innenstadt und an der Universität hörte man immer wieder Parolen gegen Pinochet. Der Streikaufruf wurde diesmal wesentlich weniger stark befolgt als im Juli. Trotzdem erschienen zahlreiche Beschäftigte nicht zur Arbeit, auch weil viele öffentliche Verkehrsmittel nicht fuhren. Die privaten Busunternehmer hatten es vorgezogen, angesichts der zu erwarteten Steine und Barrikaden ihre Fahrer nicht auf die Straßen zu schicken. Jedenfalls nahm der Verkehr auf den Straßen Santiagos gegen Nachmittag deutlich ab. Über die Streikbeteiligung des Handel gibt es sehr unterschied liche Meinungen: Während das Radio verkündete, daß die Lage beinahe normal sei, behauptete Oscar Munoa von der Gewerkschaft CNT, daß so gut wie alle Läden am Nachmittag dicht gemacht hätten. „Ganztägige Arbeitsabwesenheit“, so Munoa weiter, „gibt es nur etwa zehn Prozent. Aber viele Arbeiter sind heute zu spät gekommen. Es ist damit zu rechnen, daß sie auch früher wieder nach Hause gehen, denn sonst müssen sie befürchten, keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr zu bekommen.“ Die Vorbereitung der Protesttage hinterließ viele Fragen. Wielange sollte gestreikt werden? Wer rief zum Protest auf? Noch am Sonntag hatte mir eine Frau am Abend in La Victoria erzählt: „Diesmal wird es ein langer Streik, bis zum 11. September wird er dauern“. Nur eines schien sicher: Die „Asamblea de la Civilidad“, ein Zusammenschluß aus Berufs–und Interesseverbänden, der gemeinhin als das umfassendste und wichtigste Oppositionsbündnis seit dem Putsch Pinochets im Jahre 1973 gilt und der auch am 2. und 3. Julizum Protest aufgerufen hatte, stand dahinter. Doch bei einer Pressekonferenz am Montag hinterließ das Bündnis einen Haufen sprach– und orientierungslosen Journalisten. Alle hatten einen offiziellen Streikaufruf erwartet, aber nichts dergleichen passierte. Die Asamblea stellte klar: Wir rufen dazu auf, am 4. September über dieses historische Datum nachzudenken. Von 1946 bis 1970 war regelmäßig alle sechs Jahre an diesem Tag der chilenische Präsident gewählt worden. In welcher Form diese Reflexion stattfindet, wurde offengelassen. „Aber ganz Chile geht davon aus, daß die Asamblea zum Protest aufruft. Wie könnt ihr euch aus der Verantwortung ziehen?“ frage ich nach der Konferenz den Vertreter der Akademiker–Assoziation Patricio Basso. „Wenn man es genau nimmt“, antwortet er, „haben wir auch am 2. und 3. Juni nicht aufgerufen, sondern das Volk hat sich selber aufgerufen“. Dann wird er vom Präsidenten der Asamblea, Doktor Gonzalez, weggezerrt: keine weiteren Auskünfte. Dreißig Führungsmitglieder der Asamblea hatten den Streikaufruf vom Juli mit 40 Tagen Gefängnis büßen müssen. Sie wurden für die Ausschreitungen der Proteste mitverantwortlich gemacht und hatten somit gegen das Sicherheitsgesetz verstoßen. Aber nicht aus Furcht, zum Wiederholungstäter zu werden, sondern aus anderen Gründen schrecken Teile der Asamblea diesmal vor dem Streik zurück: „Wir fürchten“, so Juan Carlos Latorre, der Vertreter des Ingenieurverbandes, „daß gewalttätige Sektoren - seien sie auf Seiten der Regierung oder der Opposition - den Protest für ihre Ziele ausnutzen könnten“. Die zunehmende Militarisierung der Politik ist offensichtlich. Ständig werden neue Waffenarsenale gefunden, die der Regierung zur Legitimierung ihres Vorgehens dienen. Was daran wahr ist und was nicht, kann im Moment keiner mehr mit Sicherheit sagen. Fest steht nur: vieles paßt Pinochet gerade richtig in seine Werbekampagne, denn der General möchte gerne Präsident bleiben, und seine liebste und schärfste Waffe ist die Angst des Bürgertums und der Militärs vor der „kommunistischen Subversion“.

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