Chile: Zum Jahrestag ein Attentat

■ Nach dem mißglückten Anschlag auf Diktator Pinochet wurde erneut der Belagerungszustand verhängt

Seit drei Jahren kommt es in Chile regelmäßig an jedem Jahrestag zu Protesttagen. Kurz vor dem 13. Jahrestag des Militärputsches wurde auf Diktator Pinochet ein Attentat verübt, das ihm jedoch nur eine leichte Verletzung beibrachte. Ein geglücktes Attentat hätte in Chile zu einer neuen Dynamik der Entwicklung geführt. Denn Pinochet ist zur unersetzlichen Symbolfigur der Diktatur geworden.

Schon viele Attentäter wollten mit ein paar Schüssen oder einer Bombe den Lauf der Geschichte beschleunigen. Oft genug sind Köpfe gefallen, ausgetauscht worden, ohne daß sich viel verändert hätte. Die Schützen, die am Sonntag auf Pinochet, den nach Paraguays Stroessner dienstältesten Diktator Lateinamerikas, feuerten, konnten hoffen, daß ein geglücktes Attentat in der blockierten Entwicklung Chiles eine neue Dynamik eröffnet hätte. Mit gutem Recht. Denn Pinochet ist für die Stabilität der gegenwärtigen Diktatur unersetzlich, und einen Nachfolger hat er nie aufgebaut. Anders als in Argentinien, wo sich die militärischen Triumvirate während der achtjährigen Diktatur mit schöner Regelmäßigkeit alle drei Jahre ablösten, anders als in Uruguay, wo sich kein Militärmachthaber in den elf Jahren Diktatur einen Namen gemacht hat, hat es Augusto Pinochet Ugarte verstanden, sich vom Putschführer zum Caudillo und schließlich auf den Wogen der wirtschaftlichen Scheinblüte - zum Landesvater aufzubauen. Vor dem wirtschaftlichen Crash 1982 wußte der Diktator, der aus der Junta ausgetreten war, um sich zum Staatspräsidenten küren zu lassen, eine deutliche Mehrheit der Chilenen hinter sich. Erst als die Träume des chilenischen Wirtschaftswunders wie Seifenblasen platzten und die auf der Basis einer massiven privaten Verschuldung scheinbar florierende Wirtschaft in kurzer Zeit zusammenkrachte, begann Pinochets Machtposition zu wanken. Denn gerade die hauptstädtische Mittelschicht, unter deren Applaus er sich an die Macht geputscht hatte, trug nun ihr Mißbehagen gegen ihre rapide Verarmung auf die Straße. Der Protest griff schnell auf die Poblaciones, die Armenviertel Santiagos, über. Seit drei Jahren nun schon kommt es in Chile immer wieder zu Protesttagen. Die Bilder gleichen sich. Barrikadenbau in den Poblaciones, besetzte Universitäten, Demonstrationen auf der Plaza de Armas, dem Hauptplatz Santiagos. Der Protest droht trotz aller Brutalität der Armee und Polizei zur Routine zu werden. Die Opposition - in zwei große Bündnisse gespalten, eines von den Kommunisten, das andere von den Christdemokraten angeführt - hat außer der Forderung nach dem Abgang Pinochets wenig an konkreter gemeinsamer Perspektive entwickelt. Daß über einen wachsenden Protest oder über die Zunahme bewaffneter Aktionen die Diktatur gestürzt werden kann, daran glaubt in Chile allerdings kaum jemand. Chile ist nicht der Iran von 1979, nicht die Philippinen von 1986. Die Massenbewegung hat Chile verändert. Man diskutiert offen über das Ende der Diktatur, man ist gegen Pinochet, aber weiß nicht, wie man ihn los wird. Denn auf der Ebene der politischen Macht hat sich kaum was verändert. Noch läßt der alternde Diktator ganz nach seinem Gusto Zeitschriften schließen, deren Erscheinen er einst zu erlauben beliebte. Niemand hindert ihn daran, den Belagerungszustand auszurufen, wenn er Ruhe und Ordnung für gefährdet hält. Niemand hindert ihn daran, zur Einschüchterung der Opposition wieder ver mehrt auf illegale Kommandos zurückzugreifen. Die Massenbewegung hat in Chile ein neues Klima und vielleicht auch ein Stück weit eine neue politische Kultur geschaffen. Das ist viel, aber es reicht zum Sturz der verhaßten Diktatur nicht aus. Der entscheidende Anstoß, der eine neue Dynamik in die chilenische Entwicklung bringen und für Pinochets Regime zum Todesstoß werden könnte, kommt vom Großen Bruder aus dem Norden, der den General vor 13 Jahren an die Macht gehievt hat. Unzweideutig hat die US–Regierung zu erkennen gegeben, daß sie Pinochet fallen lassen will. Mit unmißverständlichem Unterton spricht Außenminister Shultz inzwischen von vier Diktaturen auf dem amerikanischen Kontinent: Kuba, Nicaragua, Paraguay und Chile. Zum ersten Mal hat die US–Regierung in diesem Jahr die Menschenrechtsverletzungen in Chile verurteilt. Der US–Botschafter Harry Barnes, der im vergangenen Oktober seinen Dienst in Santiago antrat, hat sich nicht gescheut, ostentativ den Kontakt zur Opposition zu suchen. Und wie ernst es die USA mit einer Wachablösung meinen, hat sich vor wenigen Wochen gezeigt, als John Galvin, Chef des South Command der US–Army mit Sitz in der Panamakanalzone, nach Chile aufbrach. Auf einer geheimen Sitzung in Santiago machte er den Kommandanten der Luftwaffe, der Marine und des Heers klar, daß Pinochets Uhr abgelaufen sei. Ob die Papiere, die die bewaffnete kommunistische Untergrundorganisation „Frente Manuel Rodriguez“ dem von ihr entführ ten Armeeobersten Mario Häberle abgenommen haben will und der Presse zuspielte, tatsächlich die echten Protokolle dieser Sitzung sind, ist umstritten - daß es die Sitzung gab, jedoch nicht. Nachdem Pinochet dem Oberkommandierenden des Heeres, General Singlair, förmlich verboten hat, einer Einladung nach Washington nachzukommen, machten sich die US–Militärs eben in den Süden auf. An den chilenischen Militärs führt jedenfalls kein Weg vorbei. Während der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, General Fernando Matthei, ab und zu einen Übergang zur Demokratie öffentlich in Erwägung zieht und auch Marinechef Jose Toribio Merino es für „unumgänglich“ hält, die Verfassung (die Pinochets Präsidentschaft bis 1989 festschreibt) „in einigen Punkten zu revidieren“, scheint das Heer noch der schwierigste Brocken zu sein. Die meisten Offiziere verdanken ihren Aufstieg Pinochet, der von Allende zwei Wochen vor seinem Sturz eigenhändig zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt worden war. In der entscheidenden Teilstreitkraft steigt niemand ohne das Plazet des Diktators auf. Am schlagkräftigen Heer, das von den Geheimdiensten wohl nicht weniger bespitzelt wird als die Opposition, beißen sich die US–Generäle noch am ehesten die Zähne aus. Insofern hätte ein geglücktes Attentat am Sonntag sogar Schützenhilfe für die US–Strategen bedeuten können. Noch steht jedenfalls vor allem Pinochet selber einer Durchsetzung der „Reagan– Doktrin“ in Chile entgegen, das heißt einer kontrollierten Machtablösung, die die US–Interessen nicht gefährdet. Thomas Schmid