: Nachhilfeunterricht in Atomrecht
■ Die Anhörung über die Sicherheit des AKWs Stade geriet zur Farce / Statt Informationen nur Beruhigungsplatitüden seitens der „Fachleute“ / Zuhörerfragen waren nicht gestattet
Stade (taz) - Die etwa zweihundertfünfzig Besucher des Hearings über die Sicherheit des Atomkraftwerks Stade hatten nur einmal Grund zum Lachen: als CDU– Bürgermeister Eylmann den Diplom–Ingenieur Schulz „von der Gesellschaft für Reaktorun... äh... Sicherheit“ vorstellte. Ansonsten war das Bild für sie eher erdrückend: Ihnen gegenüber, auf dem erhöhten Podium im Ratssaal der Stadt Stade, saßen sechzehn Fachleute in drei Reihen hintereinander, eine Art atomwissenschaftliches Weltgericht. Eylmann stellte nur die erste Reihe vor: ein Ministerialrat und ein Physiker aus dem niedersächsischen Umweltministerium als Genehmigungsbehörde, für die Betreiberfirma ein Hauptabteilungsleiter der Preußen Elektra– Verwaltung und der Technische Geschäftsführer des AKWs sowie besagter Helmut Schulz, Leiter der Abteilung für Strukturmechanik der GRS, der im Verlauf des Hearings die Arroganz der Experten so treffend formulieren sollte. Mit einer Handbewegung hinter sich beschrieb Eylmann zeitsparend die zweite und dritte Reihe: „Und da sitzen sechs Herren vom TÜV Norddeutschland und weitere Sachverständige zur Beanwortung spezieller Fragen.“ Absage des einzigen Skeptikers Der Bürgermeister schloß den Auftakt mit einer kommentarlosen Verlesung des Absageschreibens von Dieter von Ehrenstein, der als einziger Skeptiker zum Hearing eingeladen worden war und Ende letzter Woche seine Teilnahme zurückgenommen hatte, weil die Preußen Elektra ihm die notwendigen Unterlagen nicht zur Verfügung gestellt hatte. Als „Kaspertheater“ hatte die zweiköpfige Grünen–Fraktion daraufhin das Hearing bezeichnet und noch am Morgen beschlossen, keine kritischen Fragen an die Gutachter zu stellen und die Veranstaltung zu boykottieren. Weil sich die örtliche SPD mit den Abschaltplänen ihres Landesvorsitzenden Schröder nicht anfreunden kann, waren außer der Kritik eines Redners an der „unverständlichen Geheimniskrämerei“ gegenüber von Ehrenstein auch von ihr keine Überraschungen zu erwarten. Vorzugspreis für die Großindustrie Auch die Zuhörer, unter ihnen nur drei Dutzend Atomkraftgegnerinnen und -gegner, durften keine Fragen stellen, weil die Anhörung Bestandteil einer öffentlichen Ratssitzung war, der letzten vor den Kommunalwahlen in drei Wochen. Die Anhörung war im Mai noch unter dem Eindruck von Tschernobyl von allen Parteien beschlossen worden. Nachdem aber der niedersächsische Umweltminister Remmers eine neue Expertise für das AKW angekündigt hatte, versuchte die Minderheitsregierung der CDU, die zunehmend ungeliebte Anhörung mit der Begründung zu kippen, sie sei jetzt nicht mehr notwendig. Die anderen Parteien, besorgt um ein nicht allzu atomfreundliches Profil, überstimmten die entsprechenden Anträge jedoch. Für das politische Klima in Stade war jedoch bedeutender, daß sich die örtliche Großindustrie im Sommer zu Wort gemeldet hatte. Denn das AKW - 1972 in Betrieb gegangen und damit der älteste noch arbeitende Reaktor in der Bundesrepublik - ist seither für die energieintensive Industrie, die gleichzeitig im Unterelberaum angesiedelt wurde, von großer Wichtigkeit. Der US–Multi Dow Chemical wird zu 60 Prozent vom AKW mit Strom versorgt, vor allem aber erhalten zwei stromfressende Aluminiumwerke die Kilowattstunden zum heruntersubventionierten Vorzugspreis von drei Pfennig. Und deren insgesamt fast 2.500 Arbeitsplätze stünden bei einem sofortigen Ausstieg aus der billigen Kernenergie auf dem Spiel, drohten Preußen Elektra, Dow, die Vereinigten Aluminiumwerke und die Aluminium Oxid Stade zur gleichen Zeit. Vom Hearing zum Matjes Schürte die Industrie im Vorfeld eine Angstkampagne, übernahmen die Fachleute jetzt die Beruhigung. Ihre Einführungsvorträge befaßten sich hauptsächlich mit der vieldiskutierten Versprödung des Reaktordruckbehälters und dem damit zusammenhängenden Umbau des Kühlsystems. Warum der Physiker Jens Scheer aber deswegen behaupten darf, das AKW Stade könne jeden Augenblick in die Luft fliegen, wenn er gleichzeitig einräumt, daß der TÜV das anders sieht - das erfuhren die Zuschauer nicht. Stattdessen erhielten sie fast zwei Stunden Nachhilfeunterricht im Atomrecht und eine mit vielen Diagrammen unterlegte theoretische Darstellung des Problems, bei dem sich gähnende Langeweile ausbreitete. Schwung in die ermüdete Zuhörerschaft brachte erst Schul mit einem anschaulichen Vergleich: „Eiche bleibt Eiche, Stahl bleibt Stahl“. Internationale Fachleute, so sein Resumee, hielten selbst eine verdoppelte Strahlenbelastung der Schweißnähte für erträglich. „Wenn man die entsprechende Fachkunde hat, weiß man, wo man nachlesen muß,“ belehrte er Stadtrat und Publikum, die diese Bestätigung ihrer Inkompetenz schweigend hinnahmen. „Vom Stader Hearing zum Matjes nach Hausfrauenart“ titelte die linke Stader Rundschau, die die Hilflosigkeit des Parlaments vorausgesehen hatte. Applaus vom Stadtrat Mit den meisten der bereits vorformulierten Fragen hatten die Fachleute denn auch keine Mühe. Der hartnäckig nachfragenden FDP–Fraktionsvorsitzenden mußten sie allerdings überraschend einräumen, daß ein Flugzeug die Schutzkuppel sehr wohl durchschlagen könne - vor allem die geringe Wahrscheinlichkeit und die Vermutung, daß die Anlagen im Innern dennoch steuerbar blieben, gäben Grund zur Beruhigung. Dem zurückgetretenen Dieter von Ehrenstein gab der GRS–Ingenieur Schulz die Empfehlung, wenn er Unterlagen benötige, könne er sie sich doch besorgen. „Alle Angaben sind seit fünf, acht Jahren gedruckt. Man muß sie nur lesen.“ Diesmal applaudierte der Rat. Dietmar Bartz
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