: Einstiegsszenario für den 25.1.1986
■ Für einen sofortigen Ausstieg aus der Koalitionstolerierungsdebatte / von Wilfried Kretschmann
Wir hätten allen Grund zum Selbstbewußtsein nach dem Nürnberger Parteitag der SPD. Der Tanker hat Kurs genommen auf zwei grüne Zielmarken, den Ausstieg aus der Atomenergie und aus der atomaren Nachrüstung. Warum spielt Rau weiter den Fundamentalisten und verweigert sich einem Bündnis mit uns? Die Antwort ist so einfach wie die Lösung schwierig ist: Im Gegensatz zur Anhängerschaft der Grünen, die mit über 90 eine rot–grüne Koalition will, sind es bei den Wählern der Sozialdemokratie nur die Hälfte, die dieses Bündnis wollen. Folglich taktiert die SPD mit allen möglichen „Mehrheitsvarianten“ herum, ohne daß irgendeine wenigstens einen Hauch von Glaubwürdigkeit besäße. Kein Ausgangspunkt für eine politische Offensive der größten Oppositionspartei. Die SPD ist aufgrund der Gespaltenheit ihrer Wählerschaft bezüglich Rot–Grün in einer schwierigen Lage, wir eigentlich nicht. Die Mehrheit im Bundesvorstand und auf den Bundesdelegiertenversammlungen, die seit Jahren die Öffentlichkeit mit der Debatte „sollen wir oder sollen wir nicht“ nervt, schafft mit dieser Debatte erst künstlich eine schwierige Lage gegen den unausweichlichen Trend zur Selbstverständlichkeit: daß eine parlamentarische Partei die Regierungsbeteiligung anstrebt. Obwohl die Situation für alle, die die CDU–FDP–Koalition ablösen wollen, geradezu nach Durchtrennung des Gordischen Knotens schreit, sind die Grünen vor ihrem Parteitag in Nürnberg dabei, noch weitere Fäden zum Knoten dazuzustricken. Wöchentlich entstehen neue Tolerierungs– und Koalitionsvarianten mit allen erdenklichen Klauseln und Knackpunkten, geradeso, als ob man den Bären umso leichter erlegen könne, je genauer man sich vor der Jagd überlegt, wie man sein Fell teilt. Die kleinen Möglichkeiten Die Debatte Koalition oder Tolerierung hat nicht nur aus aktuellem Anlaß etwas leicht Groteskes, denn selbst rechnerische rot– grüne Mehrheiten sind derzeit nicht in Sicht. Grundsätzlich toleriert eine kleine Partei auch in einem Regierungsbündnis das allermeiste. Aktive gestaltende Regierungstätigkeit ist nur in den eigenen Ressorts möglich und auch hier nur auf Grundlage der allgemeinen Kompromißlinie gemeinsamer Vereinbarungen im Rahmen gewachsener Sachzwänge und Strukturen, mit dem übernommenen Beamtenapparat und in einem rechtlichen Gefüge, in dem die politische Machtverteilung von Jahrzehnten geronnen ist. Für grundlegende Reformen bietet das „System“ wenig Spielraum. Dies gilt allerdings im Guten wie im Schlechten. Die vehemente Forderung nach Volksabstimmungen im Bund aus dem grün–alternativen Lager, die diesen Spielraum erhöhen würde, hat man wohlweislich im Zusammenhang mit Raketen– und Atomaus stieg gehört, nicht aber bei der derzeit virulenten Frage der Verteidiguung des Asylrechts. Eine fünf– bis zehnprozentige Partei muß sich von vornherein auf Tolerieren einstellen, d. h. das zu ertragen, was große Mehrheiten anders wollen. Dies ist oft bitter, aber durchaus demokratisch. Keinen Sinn aber macht es, auf die kleinen Möglichkeiten aktiver Gestaltung auch noch freiwillig zu verzichten. Aberwitzig ist es, dies noch vor Verhandlungen zu tun, grotesk aber geradezu, bevor durch Wahlen überhaupt andere Mehrheiten feststehen. Dies ist nach Bildung der hessischen Koalition auch allen klar. Deswegen ist die Frage Koalitionstolerierung nicht nur unproduktiv, sondern langweilig dazu. Nach ihrem Nürnberger Parteitag ist es für die SPD programmatisch noch schwieriger geworden, ein Bündnis mit uns auszuschlagen. Lediglich im Bereich der Sicherheits– und Außenpolitik kann die SPD mit ihrem Geschäftsführer Peter Glotz vornedran glaubhaft darlegen, daß eine Regierung mit uns nicht tragen würde. Wir müssen deshalb für alle potentiellen Wähler eines sozialökologischen Reformbündnisses eine realistische Option für die erste gemeinsame Legislaturperiode entwickeln. Ein Szenario dafür - also eine gedachte mögliche Wirklichkeit - könnte so aussehen: Wunschliste Die Grünen stellen in einer SPD–Grüne–Regierung den Minister für Umwelt und Energie und die Landwirtschaftsministerin. Erstens ist in diesen beiden Politikfeldern der innerparteiliche Konsens umfassend vorhanden. Zweitens umgrenzen beide Ressorts einen Kernbereich grünen Selbstverständnisses, die ökologische Frage. Drittens besitzen wir hier gegenüber der SPD ein unverwechselbares Profil: Dezentralisierung und Rekommunalisierung der Energieversorgung, ökologischer Umbau und Entgiftung der Industrie, Naturschutz als Erhalt der Kulturlandschaft, Verteidigung der Klein– und Mittelbauern und Ökologisierung der Landwirtschaft. Viertens wird uns in diesem Bereich Kompetenz zugetraut. Fünftens können wir uns auf wirklich regierungsfähige Konzeptionen stützen, die die Ökologiebewegung und Agraropposition im letzten Jahrzehnt erarbeitet haben. Hier gibt es die Basis tatsächlich. Umwelt– und Energieminister wird Joschka Fischer. Er ist populär, gescheit und gewitzt, konnte Erfahrung sammeln und hat vor allem die Fähigkeit, solch ein Bündnis mit seinen Sollbruchstellen Tag für Tag durch die Klippen zu steuern. Landwirtschaftsministerin wird Antje Vollmer. Sie ist kompetent auf diesem Gebiet, hartnäckig und mit Bauernschläue versehen, Eigenschaften, ohne die man (!) in Brüssel wenig ausrichten würde. Zugleich wäre mit ihr der gemä ßigt fundamentalistische Flügel einbezogen. Als weiteres Ministerium fordern wir ein Frauenministerium. Zwar gibt es in der Partei keinen Konsens auf dem Gebiet der Frauenpolitik. Den gibt es aber insgesamt in der Gesellschaft nicht. Dieses Ministerium fordern wir also im Sinne einer ministeriellen „pressure group“, da die Grünen trotz aller Defizite in diesem Sektor noch am glaubwürdigsten von den Parteien dastehen. Immerhin werden über 50 unserer Abgeordneten Mandatsträgerinnen sein. Frauenministerin wird Waltraud Schoppe, da sie am ehesten zwischen den verschiedenen feministischen Strömungen vermitteln könnte (soweit ich das als Mann beurteilen kann). Von vorneherein - dies ist die entscheidende Vorleistung gegenüber der SPD - verzichten wir auf das Außenministerium. Weder wäre hier derzeit eine gemeinsame außenpolitische Strategie mit der SPD möglich, noch bestünde innerparteilich ein einigermaßen trag– und konsensfähiges Gesamtkonzept. Das bedeutet, daß wir im wesentlichen eine Fortsetzung sozialdemokratischer Entspannungspolitik tolerieren, zumal es die Koalition mit Sicherheit vier Jahre beschäftigen würde, Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper wieder aus dem Land hinauszubringen. Mit der konkreten Verhandlung über den Palme–Plan eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa könnten wir aber auch mit der SPD erste Schritte einer blockübergreifenden Friedenspolitik einleiten. Allerdings fordern wir als viertes Ministerium das Entwicklungshilfeministerium, um über diesen Weg - ähnlich wie in der z. Zt. regierenden Koalition die CSU - Einfluß auf die Außenpolitik zu nehmen. Die Frage von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industrienationen entspricht zum einen besten linken Traditionen der GRÜNEN im außenpolitischen Bereich, zum anderen kön nen wir uns auch hier auf viele aktive Basisgruppen stützen. Uschi Eid, die Spitzenkandidatin in Baden–Württemberg, sollte dieses Ressort führen. Sie kommt aus der Internationalismusarbeit und hat in ihrer bisherigen Afrikapolitik im Bundestag bewiesen, daß sie glaubwürdig blockübergreifende Ansätze entwickelt. Zusammen mit Waltraud Schoppe konstrastiert sie gegenüber Joschka Fischer und Antje Vollmer zugleich als ein weniger macht– und öffentlichkeitsorientierter Politiker(innen)typus. Das vorgeschlagene Gespann repräsentiert politischen und biographischen Pluralismus, ist regional ausgewogen und übererfüllt das Frauenquotum. Im Sinne notwendiger Gelenkfunktionen zu wichtigen sozialdemokratisch geführten Ressorts wären noch ein Staatssekretär im Auswärtigen Amt (Otto Schily), im Wirtschaftsministerium (Johannes Berger) und im Arbeitsministerium (Willi Hoss) zu erstreiten. Zu allen Politikfeldern, in denen wir das Ressort nicht führen, also keine konzeptionelle Gesamtverantwortung wahrnehmen, geht es immer um wichtige und wegweisende Einzelforderungen, wie z. B. Einführung eines Mindesteinkommens. Völlig raushalten würden wir uns aus dem Innenministerium. Denn hier geht es erstmal nicht um einen anderen Vollzug, sondern um die Erarbeitung anderer gesetzlicher Grundlagen. Dasselbe gilt für das Verteidigungsministerium. Aus diesem Feld der Politik müssen wir einen Bundesbeauftragten für Abrüstung fordern, der direkt dem Parlament unterstellt ist, um die Notwendigkeit einer auch institutionell abgesicherten Abrüstungspolitik in die bundesrepublikanische Politik überhaupt mal einzuführen.(Für Rüstungsbeschaffung gibt es einen eigenen Staatssekretär mit entsprechendem Apparat!). Der parteilose Alfred Mechtersheimer wäre hier ein ausgewiesener Aspirant. Ein weiterer Bundesbeauftragter für Dezentralisierung wird geschaffen, um zuerst im politischen Bereich Kompetenzen wieder vom Bund an Länder, Städte und Gemeinden und von den Metropolen an die Provinz zurückzugeben. In diesem Sinne wird das Bildungsministerium ersatzlos aufgelöst und die Kulturhoheit der Länder respektiert. Dasselbe gilt für das Städtebauministerium. Spätestens nach Tschernobyl ist der Expertenverstand in die Krise geraten. Als Gegengewicht gegen diverse Sachverständigengremien und das Gutachterunwesen wird ein Hoher Laienrat gebildet, dessen Mitglieder nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden und die Bundesregierung ebenso beraten wie zum Beispiel die sogenannten Sieben Weisen. Nicht Knackpunkte sondern Kuhhandel Die Verhandlungen über Inhalte führt die Bundestagsfraktion. Nicht auf der Grundlage von Knackpunkten, sondern nach dem Prinzip Kuhhandel, also rausholen, was geht. Was geht, hängt dabei von den politischen Kräftekonstellationen innerhalb und außerhalb des Parlaments und vom Verhandlungsklima und -geschick ab. Knackpunkte verhindern erfolgreiche Verhandlungen (kommt von ver– handeln) von vornherein. Ob das Verhandelte genügt, wird sinnvollerweise danach entschieden. Diese Entscheidung sollte die Fraktion autonom treffen. Schließlich erfolgt in der Partei keine Wahl so intensiv und sorgfältig wie die der Abgeordneten. Dazu kommt, daß sich in der Bundestagsfraktion das unterschiedliche Profil der Landesverbände am ehesten wiederspiegelt. Durch solch ein Verfahren erhält sich die Parteiauch den notwendigen Spielraum für ein kritisches Verhältnis zur eigenen Fraktion (und Regierung), anders bleibt es wie jetzt ein kontrollitisches. Das heißt aber, daß die Partei selbst wieder zum Zentrum politischer Strategiediskussionen auf der Grundlage eigener Programmatik werden kann und zwischen sozialen Strömungen und institutioneller Politik ihre Scharnierfunktionen wahrnimmt. Der Knopf Die Mär vom Durchhauen des Gordischen Knotens vermittelt ja eine durchaus wirklichkeitsfremde Suggestion, so als gäbe es eine fundamentalistische Lösung für die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten in der komplexen Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christi. Einen Knopf müßte man allerdings dranmachen, wie die Schwaben sagen, wenn ihnen das Herumgezerfe und Herumgefrosche reicht und sie eine Sache zum Abschluß bringen wollen. Wir sind eine kleine parlamentarische Partei, wir wollen an die Regierung, das geht zur Zeit nur mit der SPD, also machen wir ihr ein zumutbares Angebot. Auf solch einfache politische Grundsatzentscheidungen haben die Leute ein Recht. Und alle Erfahrung zeigt, daß sie für ein ausgeklügeltes Taktieren in Verfahrensfragen (eine schlechte linke Tradition, bei der man sich selbst zum Fisch und das Volk zum Wasser erklärt) wenig Verständnis aufbringen. Verlangt wird Schlitzohrigkeit in der Durchsetzung von Inhalten. Umgekehrt treibt man die Leute in die Arme der Konjunkturritter vom einfachen Weltbild. Und die Zwiespältigkeit in den Menschen, einerseits der Wunsch nach durchschaubaren und schnellen Lösungen, dagegen die eigene Lebenserfahrung, daß Knoten immer nur mühsam aufgedröselt werden können, wird dann eher zur Knetmasse des rechten Populismus. Einen Knopf dranzumachen an die Koalitionstolerierungsdebatte bedeutet, wieder Luft zu bekommen für den Wahlkampf. In ihm geht es allerdings hauptsächlich darum, daß wir wieder in den Bundestag einziehen. Die westdeutsche Nachkriegsdemokratie war bis zu unserem Einzug eine „closed society“, die alles querstehende ausgegrenzt und an den Rand gedrückt hat, um dann den verlogenen „Konsens der Demokraten“ zu kreieren. Diesen Sack aufgeschnürt zu haben, ist der eigentliche kulturelle Erfolg der GRÜNEN in den letzten Jahren. Die Alt–Parteien machen einige Zugeständnisse an unsere Programmatik, wollen diesen Sack aber wieder zuschnüren und werden ihn ohne uns im Parlament auch wieder zubinden. Dies muß unsere wichtigste Botschaft an die Wähler(innen)sein: daß ohne unseren Wiedereinzug die weitere Öffnung der westdeutschen Demokratie wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus gefährdet wäre; die Öffnung für die Utopien vom ganz Anderen und Neuen ebenso wie der Wunsch nach Wiederherstellung der alten Zustände, der guten alten Zeit. Und daß sich beides in ein und derselben Partei tummelt. 16. September 1986
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