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Italiens neuer Moralismus

■ Touristen sollen sich bedecken, über die Moral wachen zunehmend wieder die Katholiken: Zucht und Ordnung werden in Italien wieder bleibende Werte / Capri vergibt T–Shirts

Aus Rom Werner Raith

„Damned Spaghetti“, flucht der junge Mann am Bernini–Brunnen auf Roms Piazza Navona auf den unerbittlichen Vigile urbano, „you cant take your breakfast ..“. Doch auch als der Fremdling seine Picknicktüte gepackt und seine Füße aus dem Wasser gezogen hat, ist der Polizist noch nicht zufrieden; ungeduldig läuft er neben dem abziehenden Engländer her: „Deve vestirsi, deve vestirsi“ - er hat es auf den nackten Oberkörper des Mannes abgesehen. Denn der muß, neuerdings auch in Rom, „ordentlich bedeckt“ sein, wie die bürgermeisterliche Verfügung ausweist. Nach Touristengroßorten wie Venedig und Riccione hat auch die Hauptstadt ein neues Reglement ausgegeben, was sich auf Straßen und Plätzen, in Museen und Kirchen schickt. „Der Mist ist,“ gesteht der Polizist, nachdem er dem Halbnackten endlich die Sache klargemacht hat, „daß die jetzt auch noch ein Hemd von uns verlangen.“ Der Grund: Capri, zwar ebenfalls bekleidungswillig, aber auch auf Touristen aus, übergibt den Sündern nach Zahlung der saftigen Strafe ein T–Shirt als Sofortmaßnahme. Halb Europa lacht sich derzeit kaputt über die Kreuzzüge italienischer Behörden gegen die bisher gutgelittenen Leute in Badehosen oder mit den Füßen in öffentlichen Brunnen. Doch die willkommenen „Sommerloch“–Meldungen verdecken mit ihrer fast selbstverständlichen Ironie, daß sich hinter alledem eine keineswegs nur oberflächliche Wende verbirgt: Italien hat einen neuen Moralismus, und der breitet sich in respektabler Geschwindigkeit aus. Back to the fifties So manche scheinbar vereinzelte Episode ergibt im Zusammenhang mit anderen Ereignissen einen Baustein zum Gebäude neuer Sittenvorstellungen, die zumindest auf das Überwunden geglaubte Niveau der 50er Jahre zurückweisen. Sichtbar wird die Entwicklung vor allem auf dem Gebiet der Sexualität; aber nicht nur dort. Als vor eineinhalb Jahren der Papst eine mächtige Polemik gegen Godards „Marien“–Film begann, ordneten dies die meisten Kommentatoren unter die Rubrik rein kirchlicher Prüderie ein. Doch die Öffentlichkeit nahm die Jagd gegen freizügiges Kino fast begierig auf. Und mancher reagierte auf seine Weise: In Mailand und Rom wurden Filmtheater angezündet, die öfter mal erotische Streifen vorführten; in Pornokinos rückten Staatsanwälte ein und beschlagnahmten die Filmrollen. In den Schulen bestimmen militante junge Katholiken von der Gruppe „Comunione e liberazione“ vielerorts die Moral, speziell bei sexualkundlichen Themen; Christdemokraten bereiten eben ein Referendum gegen die Abtreibung vor. Vor kurzem wies ein Gericht die Klage einer Prostituierten auf Erstattung des vollen Verdienstes nach einem Verkehrsunfall zurück - Begründung: „Prostitution widerspricht den guten Sitten“. Daher habe die Frau nur Anspruch aus Entschädigung „entsprechend dem Wert hausfraulicher Tätigkeit“ - umgerechnet ca. 850 DM (woran beides erstaunt - die Begründung wie auch die materielle und ideelle Wertung von Hausfrauen). Auch die mutig begonnene Reform des Sexualstrafrechts stagniert: Noch im Frühjahr hatte die zuständige Parlamentskommission beschlossen, daß künftig sexuelle Beziehung zwischen Gleichaltrigen ab dem 12. Lebensjahr straffrei bleiben sollen - inzwischen ist es eifrigen Christdemokraten gelungen, wieder den 15. Geburtstag zur „Deadline“ zu machen. Selbstjustiz gegen Unmoral Parallel zu diesen sozusagen „offiziellen“ Reduktionen nimmt die Aggressivität gegenüber jenen zu, die sich nicht an die üblichen Tabus halten wollen. Als Soziologen und Politiker in Bologna und Neapel „Begegnungsparks“ anregten, um Jugendlichen das ungute und mitunter auch gefährliche Herumdrücken in Autos oder dunklen Winkeln zu ersparen, wurden den Promotoren der Idee die Fenster eingeworfen und Autos angezündet. Die freizügige Bade– und Campingzone des sardischen Santa Teresa di Gallura ist, nach harten Auseinandersetzungen mit Ein wohnern, faktisch verlassen; am Lido von Jesolo hoben die Carabinieri in einer Blitzaktion die angestammte Nudistenzone „Del Morto“ aus. Solchermaßen durch öffentliche Zustimmung gestützt, gelüstet es den einen oder anderen privaten Moralhüter nach aktiver Mithilfe: in Rimini riß ein 56jähriger einem 24jährigen Mann ein Ohr ab, weil dieser nackt duschte; im oberitalienischen Vernazza schlug eine Gruppe von Einwohnern drei Nudisten krankenhausreif. Überaus beunruhigend auch, wie selbstverständlich Selbstjustiz im juristisch nicht strafbaren Bereich wieder wird. Die Eltern eines Mädchens, das angeblich von einem jungen Mann „würdelos“ angequatscht worden war, zwangen den Übeltäter ins Haus und hätten ihn um ein Haar stranguliert. „Er hat gekriegt, was er verdient“, sagen die Nachbarn überzeugt. Der neue Moralismus hat die verschiedensten Gebiete erreicht. „Zucht und Ordnung werden wieder einkehren“, verrät mir der Besitzer des Schuhladens vor der Fontana die Trevi in Rom, der mit geradezu feldwebelmäßiger Lust seine Kunden rechts vom Eingang in Reih und Glied anstehen läßt und verlangt, daß man schon vorher im Schaufenster „seinen“ Schuh ausgeguckt hat - sonst gehts zurück an den Anfang: „Ich hab noch mit Mussolini in Äthiopien gekämpft“. An der Piazza Venezia führt ein Polizist, der sicher nicht mehr bei Mussolini war, öffentliches Strafexerzieren vor: drei Jugendliche haben den weißen Strich vor der Ampel um einen halben Meter überfahren und müssen nun, nach dem Strafezahlen, zentimeterweise zurücksetzen - währenddessen ist der übrige Verkehr blockiert: „Ihr werdet noch parieren lernen“, entläßt sie der Polizist drohend. Zugegeben: wie sich mancher Besucher aufführt, überspannt schon hie und da den Bogen. Die nachmittäglichen Schnarchkonzerte, die einem mitunter aus den kühlen Kirchen entgegenschallen, oder der Eindruck einer Badekolonie vor dem Hochaltar ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Nudisten verprügelt Und die drei verprügelten Nudisten sollen zuvor nackt und penetrant in Vernazza betteln gegangen sein. Doch die Aggressivität, mit der viele Italiener heute andersgestrickten Zeitgenossen begegnen, geht weit über bloße Reaktion auf momentane Verärgerung hinaus. Mit gesträubten Haaren beobachten insbesondere die Kommunisten, was aus ihrer seit fünfzehn Jahren propagierten „questione morale“ wird - der Ruf nach sauberer, transparenter Politik (derer sich freilich auch der PCI längst entfremdet hat) wird zu „einem neuen Viktorianismus“, wie der PCI–nahe „Paese sera“ jammert. Erklärungsmodelle dafür gibt es bisher kaum. „Möglicherweise hat uns die Wende unserer Nachbarländer erreicht“, sinniert „La Repubblica“, „vielleicht schwappt auch die Bewegung von jenseits des Ozeans herüber.“ Tatsächlich werden Präsident Reagans Ausführungen zu Religion und Moral, zur Erziehung und zum öffentlichen Verhalten immer umgänglicher und immer weniger kritisch zitiert (unter anderem auch von „La Repubblica“). Doch warum die Italiener auf einmal die Verklemmtheitsorgie des Großen Bruders übernehmen zu müssen glauben, ist damit sicherlich auch nicht erklärt.

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