: Michael Kühnen: In Männerbünden sexuell betätigen
■ Die Auseinandersetzungem über Homosexualität führten zur Spaltung der Neonazi–Szene / Neo–Nazi Führer bekennt sich zur eigenen Homosexualität
Von Klaus Wolschner
Es geht nicht darum, schrieb der informelle „Führer“ der bundesdeutschen Neonazi–Szene vor einigen Monaten in einer internen Broschüre, „unserer Bewegung zusätzliche Probleme und Peinlichkeiten zu ersparen“ - es geht um „diese Millionen Männer, die z.T. gerade wegen ihrer Veranlagung oder Neigung sich dazu getrieben fühlen, der Gemeinschaft zu dienen“. Nach 60 Seiten akribischer Argumentation kommt Kühnen zu dem Schluß, daß die Homosexualität - gemeint ist immer nur die der Männer - „weit davon entfernt, eine perverse Entartung zu sein - tatsächlich erst die Kultur– und Staatswerdung der Gattung Mensch ermöglicht hat“. Damals schrieb Michael Kühnen noch so, als gehe es um andere: Kameraden, die verstärkt „Haßgefühlen“ innerhalb der eigenen Bewegung ausgesetzt waren. Die Schrift widmete er Johannes Bügner, einem Homosexuellen aus den Neonazi–Kreisen, der 1981 Opfer eines Feme–Mordes wurde. Seit 1983 mußte Kühnen wieder „verstärkte Hetzkampagnen gegen verdächtige Kameraden“ registrieren. Seit dem Juli 1986 spricht Kühnen direkt und offen auch in eigener Sache. „Es fällt mir nicht leicht, nach einem mehr als neunjährigen Kampf für unsere Gemeinschaft, von denen ich bis jetzt über sechs Jahre insgesamt inhaftiert war, ohne daß ein Ende absehbar wäre, diese Bewegung zu verlassen..“, schreibt er in seiner Austrittserklärung, doch die im Juli beschlossene neue Linie - Kampf gegen Homosexuelle, die „Verräter am Volk“ seien - lasse ihm keine andere Wahl. „Ganze Schichten unseres Volkes und im übrigen bewährte Kameraden“ würden beschimpft und ausgegrenzt, „nur weil man ihre Bettgewohnheiten nicht mag“. Kühnen schreibt in seiner Austrittserklärung, er erwarte „Hetz– und Schmutzkampagnen“ und sei sich „bewußt, daß ich mich damit Mißverständnissen aussetze und daß in absehbarer Zeit gegen mich eine entsprechende Hetze einsetzen wird“. Auf eine Revision der neuen Linie setzt er aber „wenig Hoffnung“ und „verabschiedet“ sich deshalb von den Kameraden: „ziehe ich mich aus dem aktiven politischen Kampf zurück“. Erst jetzt hat er den vom 4. August datierenden Austritt breite ren Sympathisantenkreisen bekannt gemacht. Ein anderer schwuler Neonazi - Michel Caignet, Vertreiber des Nazi–Blattes Neue Zeit, verschickt gleichzeitig Kühnens gründliche Auseinandersetzung mit dem Problem „Nationalsozialismus und Homosexualität“. Fortpflanzungspflicht Ein Neonazi, der schwul ist, ist deswegen noch kein Libertärer. Bevor Kühnen in seinen Betrachtungen zur Sache kommt, muß er sich erst durch den Wust biologistischer Auffassungen durcharbeiten, die die „Grundlage“ des nationalsozialistischen Gedankengutes darstellt. Denn der Nationalsozialist will nicht „Herr der Schöpfung“ werden, sondern „lebt im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen“ und ist gerade deshalb für eine „Neue Ordnung“, die das Überleben und die „Höherentwicklung“ menschlicher Gemeinschaften sichert - „das ist der eigentliche Kern der nationalsozialistischen Revolution“, schreibt Kühnen. Während nun aber der Sexualtrieb „der Fortpflanzung (dient) und diese erfüllt das Leben der Frau“, sei die männliche Sexualität „offen, nicht zielgerichtet“. Auch wenn ein „nationalsozialistischer Volksstaat notfalls ... seine gesunden Männer und Frauen zur Fortpflanzung zwingen“ werde, bleibe bei den Männern ein Überschuß an Sexualität. „Die Frau ist damit (Kinder großzuziehen, d.A.) einen Großteil ihres Lebens ausgefüllt, der Mann dürfte dann aber durchschnittlich fünf– oder zehnmal in seinem Leben sich sexuell betätigen...“. Besser als „sich der Prostitution zu ergeben“ oder „in fremde Ehen einzubrechen“ sei es deshalb, wenn der Mann „sich innerhalb eines Männerbundes sexuell betätigt“. Arische Liebesfähigkeit Homosexualität hat allerdings nicht Ventilfunktion für Michael Kühnen. Sie kann eine wichtige Funktion für die Kampfgemeinschaft erfüllen. Denn Liebe „ist Hingabefähigkeit“, „ich–selbst– verlieren und wiederfinden“ im anderen, definiert er. „Liebe ist damit für den sehr individualistisch erzogenen Menschen der westlichen Kultur durchaus kein uneingeschränkt positives, stets angestrebtes Ziel.“ Liebe wirkt der Individualisierung entgegen, ein Neonazi kann nicht gegen die Liebe sein. „Die Hingabe zur Volksgemeinschaft schließt für den Nationalsozialisten natürlich nicht die Liebe zu einzelnen Volksgenossen aus...“ Männerbünde und Kultur Nicht die Liebe allerdings ist es, die die Entwicklung der Gemeinschaft fördert und damit die Kultur, sondern die Männerliebe. „Sie ist dank ihrer inneren Ordnung im Überlebenskampf klar überlegen.“ Männerbünde versprechen „Stabilisierung und Dauerhaftigkeit der Herrschaft“, ja noch mehr: „wo es überhaupt Kultur gibt, bedurfte und bedarf es eines Männerbundes zur Entstehung und Dauer.“ Katholische Kirche und Päpste führt Michael Kühnen als „bedeutsamstes Beispiel“ für seine Erkenntnis an, Sparta ist ihm Vorbild: die „Nutzung der überschüssigen Sexualität des Mannes für die kulturelle Gemeinschaft des Heeres (erscheint) aus nationalsozialistischer Sicht .. durchaus als natürlich und hat sich über acht Jahrhunderte hinweg bewährt.“ Der schärfste Einwand gegen Kühnens Theorie, der auch von den alten Kämpfern der NS–Bewegung vertreten wird, ist die Haltung des NS–Regimes selber. Ertränkten die Germanen nicht Homosexuelle im Sumpf? Das ist historisch nicht sauber erwiesen, argumentiert Kühnen, und außerdem sei es „schwer einzusehen, wieso wir heute ähnlich handeln sollten“. Wer schlicht zu der sozialen Ordnung „primitiver Stammeskulturen“ zurückwolle, sei ein „Steinzeit–Nationalsozialist“. Für das Dritte Reich differenziert Kühnen: im Programm stehe von einer Partei–Pflicht zur Heterosexualität nichts. Noch 1931 schützte Hitler schwule SA–Führer mit seinem „Erlaß Nr. 1“: die SA sei „eine Zusammenfassung von Männern zu einem politischen Zweck. Sie ist keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern, sondern ein Verband rauher Kämpfer“. Erst im Zusammenhang mit dem Röhm– Putsch begannen die Nazis 1934 die Homosexualität zu diskriminieren: ein „Einbruch der art– und naturfremden jüdisch–christlichen Moralauffassungen“, findet Kühnen. Und überhaupt: „Das Dritte Reich ist schließlich gescheitert“, und „spätestens der Zusammenbruch 1945 (bewies), daß heterosexuelle Beziehungen einen Männerbund kaum innerlich festigen können.“ Nur schwule Nazis sind gute Nazis... Kühnen verallgemeinert diese Erkenntnis vorsichtig tastend: Homosexuelle werden „von Natur aus“ zu der Einstellung „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ gedrängt. Oder ganz grundsätzlich: „Homosexualität ist eine natürliche Erbanlage und von Natur aus dazu bestimmt, es einer kleinen Anzahl von Männern zu ermöglichen, sich völlig unbeeinflußt von persönlichen Interessen ganz der kulturellen Entwicklung und dem Dienst an der Gemeinschaft zu widmen. Dies geschieht im Rahmen von Männerbünden..., die die Voraussetzung für die Staats– und Kulturwerdung sind und es damit den Menschen ermöglichen, sich als Kulturwesen zu entwickeln.“ Bleibt nur die Frage, „ob nicht gerade diese biologische Sicht uns veranlassen muß, Homosexualität zu fördern“. Dies erscheint Kühnen aber weder angebracht noch zweckmäßig, solange die „jüdisch–christliche Spießermoral“ vorherrsche: eine Förderung der Homosexualität würde „gerade in der soldatischen und geistigen Führung nur Empörung, Unzufriedenheit und Unverständnis hervorrufen“. Man dürfe allerdings nicht die „gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen“ diskriminieren, nur „um unserer Bewegung zusätzliche Probleme und Peinlichkeiten zu ersparen“... Kühnen ersparte der Bewegung zunächst die Publikation seiner Broschüre. Er stellte sie aber Michel Caignet zur Verfügung, der von Frankreich aus den Vertrieb der Neonazi–Schriften besorgte. Caignet verschickte auch die Zeitschrift Gaie France (Schwules Frankreich) an Kameraden. In Frankreich, von wo die Klärung der Nazi–Szene über das Sexualitäts–Thema ausging, unterstützte Caignet auch Masques, ein „kulturelles Magazin, das nicht davor zurückschreckt, mir die Möglichkeit zu geben, für eine nationalgesinnte Initiative zu werben, die sich an die Homosexuellen richtet“. Dem wollten auch die bundesdeutschen Neonazis offensichtlich einen Riegel vorschieben, und entledigten sich dabei gleich mit des inhaftierten Michael Kühnen.
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