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Organisation und Disziplin bestimmen den Alltag

■ „Der schwierigste Jihad (Heilige Krieg) ist der gegen sich selbst“ - islamisches Sprichwort

Was von den prominenten Funktionären der PLO bei den entsprechenden Anlässen auf internationalem Parkett gern als der „Verrat der arabischen Bruderländer an der palästinensischen Sache“ beschrieben wird, hat rund um das Flüchtlingslager Chatila seine Materialisierung gefunden. Libanesische Armee, Amal– Milizionäre und syrische Geheimdiensteinheiten haben den Kreis um Chatila geschlossen. Für die Bewohner des Camps herrscht seit eineinhalb Jahren Ausnahmezustand. Die libanesische Schiitenbewegung Amal fordert von den Palästinensern, daß sie ihre Waffen niederlegen und den Kampf um die Befreiung Palästinas - jedenfalls von libanesischem Territorium aus - unter Amal–Kommando stellen. Als direktes Angriffsziel dient die größte Organisation der PLO, Yassir Arafats El Fateh. Damit folgt Amal den Ambitionen des syrischen Regimes, das seit 1983 ganz offiziell darum bemüht ist, den Chef der PLO zu stürzen. Die internen Konflikte in El Fateh, die Spaltung der ganzen Befreiungsbewegung bieten die entsprechende Kerbe. Vier Jahre nach den Massakern von Sabra und Chatila kommen die Parteien nicht einmal in Trauer zusammen. An verschiedenen Tagen veranstalten die verschiedenen Organisationen und Institutionen verschiedene Gedenkfeiern. Und schlimmer noch: Selbst in der Sorge um die Überlebenden, die heutigen Bewohner Chatilas, treffen sie sich nicht. Erschütterndes Zeugnis: die verlassene Baustelle, gleich hinter der Moschee, das Fundament eines Krankenhauses. Die sogenannte Rettungsfront, von Syrien abhängiges Anti–Arafat–Bündnis, kann den Bau der Klinik wegen Geldnot nicht zu Ende führen, verhindert aber gleichzeitig den Weiterbau, den zu finanzieren Arafats El Fateh bereit wäre. Jetzt, im Oktober, beginnt im Libanon die Regenzeit. Der unverkleidete Rohbau wird zum Swimmingpool. Vorm nächsten Sommer wird es in Chatila kein neues Krankenhaus geben. In den vergangenen Runden des Beiruter Lagerkrieges haben die verschiedenen Parteien die unterschiedslose Bedrohung realisieren müssen, die Lager und damit ihr Selbstbestimmungsrecht gemeinsam verteidigt, die internen Konflikte aber tragen dazu bei, so manchem das Leben im Camp unerträglich zu machen. „Die Leute hier im Camp sind müde geworden, viele jedenfalls, und eines der häufigsten Gesprächsthemen, wenn man abends zusammensitzt, ist Auswandern. Nach Kanada, in die USA, in die BRD, gar Australien.“ Regine, eine französische OP–Schwester, die seit einem Jahr im Not–Hospital des palästinensischen Roten Halbmondes arbeitet, weiß ein Lied davon zu singen. Man sagt auch, daß die jungen Männer viel Haschisch rauchen. Das scheint zwar gerade im Libanon nahe zu liegen, war aber in den palästinensischen Flüchtlingslagern immer sehr verpönt. Und es sind natürlich auch die jungen Männer, die sich ganz besonders mit dem Gedanken ans Auswandern herumschlagen. Viele von ihnen haben das Camp seit fast einem Jahr nicht mehr verlassen. Entweder weil sie fürchten müssen, von Syrern oder Amal angegriffen zu werden, oder weil während ihrer Abwesenheit erneut der Kampf um Chatila ausbrechen könnte. Nur eine Entspannung zwischen der PLO– Führung und dem syrischen Regime könnte auch eine Entspannung ihrer Situation bedeuten, und dazu ist es bisher trotz vielfältiger Bemühungen nicht gekommen. Was tun die jungen Männer den lieben langen Tag? Verbringen sie die sogenannten besten Jahre ihres Lebens allein mit Teetrinken und Kartenspielen? „Man wird müde, schläft unglaublich viel“, sagt Samir. „Und Videos, morgens schon. Was soll man schon anderes machen? Studieren ist nicht, Schule ist nicht, 70 Prozent der Leute hier im Lager haben keinerlei Arbeit. Von Zeit zu Zeit organisieren die Parteien Kampagnen. Wiederaufbau, Camp–Verschönerung, Barrikadenbau. Und viel Sport. Tischtennis, Fußball, Volleyball, Bodybuilding. Boxen und Ringen.“ Abu Mujahed, PFLP–Kader und Mitglied des Camp–Komittees präsentiert eines dieser Ertüchtigungscenter. An den Wänden hängen Poster von männlichen Muskelpaketen, Rambo– mäßig, wie ausnahmslos alle Jugendlichen in Chatila es mögen. Neulich kam es nach einer solchen Veranstaltung tatsächlich zu einer Schießerei im Camp. „Das ist ja sogar bei den olympischen Spielen so, daß die Politik nicht aus dem Sport rausgehalten werden kann“, grinst Samir etwas trocken. Was tun die Organisationen, um dieses Aggressionspotential aufzufangen oder auszugleichen? „Wir sind eine absolut durchorganisierte Gesellschaft“, erklärt Abu Mujahed, der lange Zeit für die Jugendarbeit der PFLP zuständig war. „Unsere Kinder werden in den Dauerzustand der Bedrohung hineingeboren, sie kennen nichts anderes. Zeit zum Trauern und Sinnieren haben sie nicht. Das kommt eher bei den älteren Leuten vor, die eine ganze Reihe solcher Erfahrungen haben machen müssen. Manche haben die Vertreibung aus Palästina mitgemacht, die erste Vernichtung eines Flüchtlingslagers, damals, in Nabatiyeh, dann das Massaker von Tel Zaatar im libanesischen Bürgerkrieg, die israelische Invasion, die Massaker von Sabra und Chatila, jetzt die Lagerkriege. Unsere Kinder kennen davon ja nur einen ganz kleinen Teil aus persönlicher Erfahrung. Aber unsere Erziehung, die ja größtenteils in den Parteien und Institutionen gewährleistet wird, läuft darauf hinaus, die Geschichte des palästinensischen Volkes schon den Kindern bewußt zu machen. Sie erfahren davon in ihren Familien, in den Kindergärten, in den Schulen, in den Jugendclubs, und so geht es weiter. Wir versuchen sie in allen Altersklassen zu organisieren. Bei uns muß niemand allein sein, selbst unsere Waisenkinder sind gut versorgt.“ So ist es auch keineswegs verwunderlich, daß die Kinderlieder, die im Bet Sumoud, der Tagesstätte für Waisenkinder, gesungen werden, von Tel Zaatar erzählen, von Sabra und Chatila, vom Feddayin, der in den besetzten Gebieten kämpft. Daß die 15– bis 18 jährigen amerikanische oder europäische Disco–Musik genauso gern hören wie Abu Arab oder Marcel Khalife, Volkssänger, Liedermacher, die vom Kampf der Palästinenser und progressiven Libanesen singen. Die gleichen Jugendlichen, deren Augen beim Namen „Stallone“ aufleuchten, die Kriegs– und Actionfilme zur Lieblingsunterhaltung erklären, trainieren nachmittags im Bunker / Keller: palästinensische Folklore, Musik und Tanz mit viel rhythmischen Trommelschlägen, wehmütige Lieder einer traditionellen Beduinen– und Bauerngesellschaft. „Wer Orangenbäume pflanzt, der weiß, daß sie erst nach sieben Jahren Früchte tragen“, sagt Ali Abu Touk, der Verantwortliche von El Fateh in Chatila. Ali, erst Anfang 30, weiß, daß er Chatila nur als Sieger oder Toter verlassen wird. Er steht auf allen feindlichen Listen, sogar im Camp selber wurde vor einiger Zeit der Versuch unternommen, ihn umzubringen. Ali wurde nicht hier geboren und aufgezogen, hat keinen Clan im Camp, auf den er sich stützen könnte. Persönliche, politische Integrität und der Ruf eines hervorragenden Kaders und Kämpfers sichern seine Position. Er wird von schärfsten Sicherheitsmaßnahmen umgeben. Man trifft ihn fast nur nachts und an immer anderen Stellen, fast nie in seinem Büro. „Es ist vor allem der feste Glaube an die Gerechtigkeit unserer Sache“, sagt Ali. „Und eiserne Disziplin. Den Ablauf eines jeden Tages in Einklang mit den generellen Interessen unseres Volkes zu bringen.“ Ali ist erst nach der ersten Runde des Lagerkrieges (85) nach Chatila zurückgekehrt. Für ihn ist es keine Frage, daß die notwendige Geduld und Zuversicht, diese Situation, 24 Stunden am Tag auf 400 mal 400 Metern, den Befreiungskampf als solchen durchzuhalten, nur aus der ständigen Tuchfühlung mit den Massen entstehen kann. Das zumindest hat er von seinem Schulungsaufenthalt in der VR China nicht vergessen. Also ist Ali in Chatila. Bis zum frühen Morgen spinnt sich die Diskussion um revolutionäres Bewußtsein, die Politikmüdigkeit der europäischen Linken, denen auch Ali Romantizismus vorwirft, die Rolle der Frau in der westlichen wie auch der palästinensischen Gesellschaft, das Verhalten des ein oder anderen Kaders irgendeiner Partei, hier in Chatila, die aktuelle Situation der PLO im Rahmen des arabischen und des internationalen Kräfteverhältnisses. Nur ein einziges Mal wird die Runde unsanft unterbrochen, als es wüst an der eisernen Wohnungstür poltert. Sofort springen Alis Freunde, Frauen und Männer auf und bilden einen schützenden Kreis um ihn. Ein Mann geht mit gezogener Pistole zum Eingang. Schallendes Gelächter im Flur. Nachbarn, denen die heißen Diskussionen offenbar nicht entgangen sind, bieten ihren Gruß an und ein großes Tablett mit Schalen voll kreischend bunter Fruchtcocktails. Mit dieser Last hätte freilich niemand höflich klopfen können.

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