Verhindert Urteil die Wahrheitsfindung?

■ BGH ließ über Drogenabhängigkeit des RAF–Aussteigers P. J. Boock neu verhandeln, aber nicht über seine „Tatbeteiligung“ / Vier Gutachten über Boocks „Steuerungsfähigkeit“ / Gutachter mit NS–Vergangenheit / Plädoyer morgen

Aus Stammheim Dietrich Willier

Kurz vor den Plädoyers ist das Revisionsverfahren gegen Peter Jürgen Boock fast aussichtslos in die Sackgasse geraten. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte mit seiner Entscheidung zwar das erste Urteil im Strafmaß aufgehoben und die Neuverhandlung von Boocks Drogenabhängigkeit zugelassen, aber vergessen, daß davon zwangsläufig auch dessen „subjektive Tatbeteiligung“ berührt wird. Eigentlich, dachte man, habe Dr. Joachim Rauch, der emeritierte Heidelberger Professor, der erfahrene forensische Psychiater, der im nationalsozialistischen Euthanasie–Programm die Gehirne ermordeter Kinder sezierte, längst nichts mehr mit dem Stammheimer Verfahren gegen den RAF–Aussteiger Peter Jürgen Boock zu tun. Und doch, was der greise Psychiater damals, als Gutachter und sachverständiger Zeuge im ersten Prozess gegen Boock orakelte, scheint jetzt direkt ins Dilemma der Revisionsverhandlung zu führen. Wenn Peter Jürgen Boock an der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, dem Bau und der Installation einer Raketenschußanlage gegenüber der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und an der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer sowie seiner Begleiter beteiligt gewesen sei, so Rauchs zynischer Zirkelschluß damals, könne er nicht gleichzeitig in dem von ihm behaupteten Maße drogenabhängig gewesen sein. Boocks erste Richter senkten den Daumen, schuldig, und egal was dafür sprach, nicht drogenabhängig. Daß Rauch in dem Verfahren wegen Befangenheit abgelehnt worden war, und daß wegen seiner Vergangenheit inzwischen ermittelt wurde, führte zur Aufhebung des Urteils im Strafmaß durch die Revisionsrichter am BGH. Die Richter verwiesen die Frage der Drogenabhängigkeit zur Neuverhandlung an den 5.Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Die juristische Verbindlichkeit des Rauchschen Orakels haben die Bundesrichter dabei entweder übersehen oder aber gewollt. Das Urteil über Boocks Tatbeteiligung und Schuld ist rechtskräftig. Der Umkehrschluß, er sei damals vielleicht, da schon seit Jahren voller Opiate, Tranquilizer und Schmerzmittel, längst nicht mehr in der Lage gewesen, Mordanschläge minutiös zu planen und durchzuführen, ist damit unzulässig. Jetzt, im Revisionsprozess, hat der 5.Strafsenat des OLG Stuttgart gleich vier Gutachter für die Wahrheitsfindung zur Seite. Zwei, den Psychiater Dr. Täschner aus Stuttgart und den Berliner Rechtsmediziner Prof. Bschor, hat sich das Gericht selbst ausgesucht, Prof. Bresser aus Köln, ein vehementer Vertreter von der Psychiatriefront, hat die Bundesanwaltschaft und Prof. Specht aus Göttingen die Verteidigung in den Prozeß eingeführt. Dr. Täschner berief sich auf das erste Urteil: Der 2. Strafsenat habe festgestellt, daß sich Boock im Tatzeitraum in einem völlig geordneten Leistungszustand befand, - das sei auch seine Ansicht. Boock sei, wie Opiatsüchtige im allgemeinen, weitgehend zur geordneten Wahrnehmung der Realität fähig gewesen, und einen verwahrlosten Eindruck habe er auch nicht gemacht. Ob denn der Sachverständige Täschner seinem Gutachten im wesentlichen das erste Urteil zugrungegelegt habe, will der Vorsitzende wissen? Dr. Täschner bejaht: Nach dem ersten Urteil sei eine verminderte Steuerungsfähigkeit schwer denkbar. Also hätte man auf die Revisionsverhandlung auch verzichten können, sinniert der Vorsitzende, und: „Hätte nicht schon der Bundesgerichtshof laienhaft feststellen müssen, daß bei Drogenabhängigkeit und Sucht die innere Tatbeteiligung zweifelhaft sein könne“. Prof. Bschor, der Berliner Rechtsmediziner, beruft sich auf seine gutachterlichen Erkenntnisse, ohne die Feststellungen des ersten Urteils zu belegen. Er hat Boock mehrfach medizinisch untersucht und über 12 Stunden lang exploriert. Medizinische Befunde, über den Verlauf von Boocks mehr als zehnjähriger Drogenkarriere, und über Venenverödungen, wie sie Bschor trotz langer Erfahrungen bisher nur bei Frauen wahrnahm, lassen für den Gutachter nur einen plausiblen Schluß zu: Boock war schwer drogenabhängig, und zwar von Opiaten, und das schon seit mehr als einem Jahr. Abhängig, so Bschor, war Boock aber auch von der Gruppe der RAF. Durch seine Mitgliedschaft und seine Beteiligung an den Aktionen im Sommer 1977 habe er sich die Sicherheit eines regelmäßigen Drogennachschubs verschafft. Sein Steuerungsvermögen sei nicht nur durch den Drogenkonsum selbst, sondern vor allem auch durch die zwanghafte Beschaffungssituation stark beeinträchtigt gewesen. Eingeschränktes Steuerungsvermögen und damit verminderte Schuldfähigkeit sind auch die einzigen Faktoren, die, vom Revisionsgericht als wahr unterstellt, Boock zu einer zeitlich begrenzten statt lebenslänglichen Strafe verhelfen könnten. Prof. Bresser, der Psychiater aus Köln, der auch schon dem jugendlichen Kindermörder Jürgen Bartsch uneingeschränkte Schuldfähigkeit bescheinigte, hat sich erst gar nicht die Mühe gemacht, Boock zu untersuchen. Man müsse sich an dem tatsächlichen Verhalten des Angeklagten im Tatzeitraum orientieren, also daran, was das erste Urteil festgestellt habe. Schließlich sei Boock nicht die ganze Zeit über „bematscht“ gewesen. Boock sei trotz Drogenkonsum nicht „intoxiert“ und keine „heruntergekommene Persönlichkeit“ gewesen, und überhaupt gebe es für den Tatzeitraum auch keine Zeugen, die eine Drogenabhängigkeit des Angeklagten bestätigt hätten. Ein krankhafter Zustand und damit verminderte Steuerungsfähigkeit seien also auszuschließen. Hirnorganische Befunde seien bei Boock nicht festgestellt worden, und unerforschbare Motive könnten kein Grund zur Beurteilung der Schuldfähigkeit sein. Am gründlichsten hatte sich wohl Prof. Specht mit dem Angeklagten und seiner Geschichte befaßt: Boocks Drogenabhängigkeit für die Zeit seiner Mitgliedschaft in der RAF sei belegt, eine chronische Vergiftung mit Opiaten und anderen Medikamenten habe bestanden. Aber die Fähigkeit des Angeklagten, z.B. eine Raketenschußanlage zu bauen und gegenüber der Karlsruher Bundesanwaltschaft zu installieren, sei durch Boocks hohen Drogenkonsum nicht unbedingt beeinträchtigt gewesen. Für die RAF sei Boock aber ein Risikofaktor gewesen, sie habe ihn deshalb auch regelmäßig mit Drogen versorgt. Er sei von dieser Versorgung abhängig gewesen, mit der Folge „einer krankhaften seelischen Störung und Umformung der Motivationsstruktur“. Die Ausführungen der Professoren Bschor und Specht, resümierte der Vorsitzende Richter Herbert Schmid, hätten also auch schon im ersten Prozeß zu einem anderen Urteil führen müssen. Jenes Urteil und Boocks „subjektive Tatbeteiligung“ sind aber rechtskräftig. Die Beweisaufnahme und Befragung der Gutachter im Revisionsverfahren sind abgeschlossen, wie immer die Bundesanwälte und Verteidiger in den kommenden Tagen plädieren werden. Falls der 5. Strafsenat des OLG Stuttgart sich auf eine mutige juristische Interpretation der Gutachten einläßt, werden die Bundesanwälte einen erneuten Revisionsantrag vorlegen können. Oder Richter Herbert Schmid und sein Strafsenat bestätigen das erste Urteil, diesmal gestützt auf vier honorige Sachverständige und wasserdicht. Die Bundesanwälte plädieren am Mittwoch.