I N T E R V I E W „Große Katastrophe“

■ Prof. Dr. Rolf Peter Calliess, Strafrechtler und Sachverständiger vor dem Bundesverfassungsgericht

taz: Herr Prof. Calliess, was wollten uns die Verfassungsrichter sagen? Calliess: Das Urteil schafft gewisse Verbesserungen auf politischer Ebene. Die politischen Ziele von Demonstranten müssen jetzt in die Abwägung der Verhälnismäßigkeit einbezogen werden. Im Übrigen ist dieses Urteil eine große Katastrophe, der rechtsstaatliche Anspruch wurde noch weiter heruntergeschrieben. Dieses Urteil sagt, daß Tatbestände so weit gefaßt sein können, daß kein Mensch mehr etwas darunter versteht oder zu verstehen braucht. Jeder kann sich also bei „Gewalt“ denken was er will, anschließend sagt dann der Richter, was er für Gewalt hält. Das einzige, was konkretisiert wurde, ist, daß in Zukunft die Ziele der Demonstranten in ein Strafverfahren einbezogen werden können. Rechtsstaatliches Strafrecht bedeutet aber, daß man sich vor einer Handlung an seinen 5 Fingern abzählen kann, was man als Strafe zu erwarten hat oder nicht. Für mich war das ein Test über die Entwicklung eines „Präventions– und polizeistaatlichen Strafrechts“. Muß jetzt der Bundesgerichtshof über ein eigenes Urteil Klarheit schaffen? Der BGH wird das irgendwann einmal klären müssen, ich nehme aber nicht an, daß diese Klärung weiter geht als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es muß also eine Gesetzesinitiative her. Ich selbst werde einen Gesetzesentwurf zur Änderung des §240 StGB (Nötigung) vorbereiten, in dem die „Verwerflichkeitsklausel“ gestrichen ist. Für die Polizei wird gewaltfreies blockieren aber auch in Zukunft eine verwerfliche Nötigung darstellen? Sicher, obwohl die Polizei ja selbst, im eigenen Interesse, zur Klärung dieses Tatbestands aufgefordert hat. Auch für die Polizei hat das Urteil des BVG keine Klärung ergeben. Nur müssen Polizisten jetzt auch die Ziele von Demonstranten berücksichtigen. Ist denkbar, daß Schwäb.– Gmünder Amtsrichter in Zukunft anders verurteilen? Ja, nur wird dann dadurch noch eine weitere Ungleichmäßigkeit in der Rechtsprechung entstehen! Eine Definition der „Verwerflichkeit“ bei einer sog. Nötigung ist ja nicht erfolgt. Besonders schlimm in der Definition des Urteilstextes finde ich, daß sich ein demokratisches Bundesverfassungsgericht mit der „Verwerflichkeitsklausel“ ausdrücklich auf ein Gesetz stützt, das 1943 im Faschismus entstanden ist. Ich halte das für äußerst bemerkenswert. Interview: Dietrich Willier