Verwirrung auf allen Seiten

■ Das Bundesverfassungsgericht drückt sich um eine klare Definition / Nötigungsparagraph bleibt / Ob eine gewaltfreie Blockade illegal ist, muß weiterhin im Einzelfall entschieden werden

Darf man um des lieben Friedens willen, friedlich und gewaltfrei eine militärische Anlage blockieren? Falls ein potentieller Demonstrant sich von der gestrigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine klare Auskunft auf diese Frage erhoffte, wurde er bitter enttäuscht. Die acht höchsten Richter der Republik sahen sich nicht in der Lage, ein grundsätzliches Urteil zu fällen, sondern beließen die Entscheidung bei den im konkreten Fall gefragten Strafgerichten. Einziges Zugeständnis an die Friedensbewegung: die Motive der Blockierer sollen zukünftig angemessener berücksichtigt werden. Grundsätzlich bleibt alles beim alten, entscheidend ist die Gesinnung des jeweiligen Richters. Fortsetzung von S.1 Wenn der Gesetzgeber, so das BVG, „Sitzdemonstrationen“ als Ordnungswidrigkeit oder auch als strafwürdiges Unrecht einstufe, dann sei das weder als Verstoß gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit noch unter dem Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams zu beanstanden. Behinderungen und Zwangwirkungen auf Dritte würden nämlich vom Grundgesetz nur gerechtfertigt, wenn sie „als sozial–adäquate Nebenfolge mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind und sich auch durch zumutbare Auflagen nicht vermeiden lassen“. An dieser Voraussetzung fehlt es nach Überzeugung des gesamten Senats, wenn die Behinderung Dritter „nicht nur als Nebenfolge in Kauf genommen, sondern beabsichtigt wird, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen“. Niemand sei allerdings befugt, die öffentliche Aufmerksamkeit durch gezielte und absichtliche Behinderung zu steigern. Zumindest eine Einschränkung der bisherigen Verurteilungspraxis von Sitzdemonstranten fand der Senat dann doch noch. Geboten sei eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des Nötigungsparagraphen, der ansonsten ja gänzlich unbeanstandet blieb, in dem Sinne, „daß die Bejahung nötigender Gewalt im Falle einer Ausweitung dieses Begriffes nicht schon zugleich die Rechtswidrigkeit der Tat indiziere. Vielmehr sei die als Korrektiv gedachte Verwerflichkeitsklausel des § 240 StGB „unter Berücksichtigung aller Umstände heranzuziehen“. Es genügt nach dem Karlsruher Urteil nicht, wenn sich die Strafgerichte im Falle der Erstreckung des Gewaltbegriffs auf Sitzdemonstrationen nur damit begnügen, die Gewaltanwendung als indiziell für die Verwerflichkeit zu beurteilen. „Die mit der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel verbundene Berücksichtigung aller Umstände gehört hingegen zu den typischen Aufgaben“ der Fachgerichte, heißt es in dem Urteil. Eine bestimmte Abwägung könne das BVG den Fachgerich ten jedoch nicht vorschreiben. Die Berücksichtigung aller Umstände sah der 1.Senat bei lediglich einem der acht zur verfassungsrechtlichen Diskussion gestandenen Strafurteilen mißachtet und kassierte das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts gegen Heinz–Günter Lambertz. Er saß bereits am 3. April 1983 in Neu– Ulm vor der amerikanischen Kaserne und blockierte mit rund 200 Menschen für allerdings nur kurze Zeit das Haupttor. Die unterlegenen vier Richter verzichteten auf ein ausdrückliches Minderheitenvotum. Nach ihrer Ansicht dürfen die Ziele der Demonstranten nicht unberücksichtigt bleiben. Zwar kommt es ihrer Meinung nach bei der Abwägung von Gewaltanwendung und verfolgtem Zweck zunächst auf die Nötigungsfolgen, auf die durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen an. Diese ließen sich „aber nicht isoliert betrachten, da sie für sich allein überhaupt nicht stattgefunden hätten, sondern nur als unselbständige Zwischenschritte zur Erreichung des eigentlichen Demonstrationszieles dienen, nämlich des unmittelbaren Nötigungszieles (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen) und des Fernziels (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung).“ Wenn der Gesetzgeber, so die verfassungsrichterliche Vierer–Bande um den Berichterstatter Helmut Simon, die Strafbarkeit in der umstrittenen Vorschrift von „sittlichen Wertungen abhängig macht, dann darf der Richter bei der konkreten Abwägung den eigentlichen Anlaß und das alleinige Motiv der Tat als einen der wichtigsten Umstände für eine solche Wertung nicht außer acht lassen“. Die Simon–Gruppe hätte im übrigen allen Verfassungsbeschwerden entsprochen. Noch am Tag der Urteilsverkündung setzte sich gegen Mittag ein Zug der „Aktion des zivilen Ungehorsams“ von Karlsruhe nach Mutlangen in Bewegung. In sieben Tagen will man dort angelangen und am achten Tag mit einer Blockade vor dem amerikanischen Pershing–2–Depot gegen die NATO–Aufrüstung demonstrieren.

Die verwerfliche Gewalt geht von den Demonstranten aus... Foto: Thomas Einberger