Industrialisierung ging über Mensch und Natur

■ Cubatao im brasilianischen Bundesstaat Sao Paulo muß heute für die Entwicklung zum industriellen Schwellenland büßen / Multinationale Konzerne plündern rücksichtslos die Ressourcen und sparen Umweltschutzkosten in ihren Heimatländern / Der Soziologe Helmut Hagemann legte kürzlich eine Studie vor

Eine umfassende Studie über die Umweltproblematik in Brasilien hat der deutsche Soziologe Helmut Hagemann vorgelegt. In seinem Buch „Hohe Schornsteine am Amazonas“* schildert er insbesondere die ökologischen Auswirkungen der industriellen Entwicklung unter der Militärdiktatur, die in den siebziger Jahren das südamerikanische Land zu einem industriellen „Schwellenland“ gemacht hat. Als Beispiel für die Zerstörung der Umwelt und die damit verbundene Schädigung des Menschen führt der Autor die Stadt Cubatao im Bundesstaat Sao Paulo an. Während der Ort durch die vielen Industriebetriebe über ein enormes Kommunalbudget verfügt, erreicht dieser Wohlstand die Einwohner, das heißt die Industriearbeiter, nicht: „Nur 23 Prozent der Gemeinde wird mit Trinkwasser versorgt und nur 20 Prozent sind an die Abwasserkanalisation angeschlossen, 35 Prozent der Bevölkerung leben in Elendsvierteln.“ Andererseits verseuchen die im „Tal des Todes“ - so Hagemann über Cubatao - angesiedelten staatlichen und privaten einheimischen oder ausländischen Betriebe die Bewohner mit so viel Schadstoffen, daß genetische Schäden, Atemwegserkrankungen und Mißbildungen bei Neugeborenen stark zugenommen haben. Waldsterben ist dagegen in Cubatao kein Thema; es gibt keinen Wald mehr. Während 1962 noch 70 Prozent der Fläche mit Bäumen bedeckt war, sind es 1982 keine zehn Prozent mehr. Die abgestorbenen und von Schwefel– und Stickoxidniederschlägen weiß gefärbten Baumstämme an den Hängen der Serra do Mar werden von den Bewohnern „Zahnstocher“ genannt. Sogar die Meßgeräte der Umweltbehörde CETESB sollen unter den hohen Schadstoffwerten zusammengebrochen sein. Verantwortlich für die industrielle Umweltverschmutzung und -plünderung sind nach Hagemann insbesondere die ausländischen multinationalen Konzerne. US–amerikanische und europäische Unternehmen sind in den sechziger und siebziger Jahren oft nicht nur wegen der niedrigen Löhne und der staatlichen Investitionserleichterungen nach Brasilien gekommen, sondern auch um Kosten für Umweltschutzmaßnahmen zu sparen. Während sie in ihren lange Zeit ein Zeichen für Fortschritt. Auch bundesdeutsche Konzerne gehören zu den Umweltsündern. Laut Hagemann ist Mannesmann einer der Hauptverursacher der Luftverschmutzung in der Millionenstadt Belo Horizonte; das Werk des Pharmaherstellers Merck sei sogar wegen massiver Umweltverschmutzung zeitweise geschlossen worden; die giftigen Abwässer haben die gesamte Fischwelt im angrenzenden Fluß Rio Anil vernichtet und die Bewohner somit einer wichtigen Nahrungsquelle beraubt. Die Anwohner der Pestizidfabrik von Bayer do Brasil in Belford Roxo bei Rio de Janeiro klagen seit Jahren über Gesundheitsschäden wie Atemwegserkrankungen, für die das Bayer– Werk verantwortlich sein soll. Die weltweiten Verflechtungen bei Umweltzerstörungen werden besonders bei den Pestiziden deutlich. Als Pflanzenbehandlungsmittel wie DDT und HCH wegen ihrer katastrophalen Wirkungen auf den Menschen in den Industrieländern verboten wurden, lagerten viele Hersteller die Produktion in die „Dritte Welt“ aus. So stellt zum Beispiel Hoechst, laut Hagemann, in Brasilien nach wie vor DDT–haltige Pestizide her, mit denen auch die Soja monokulturen besprüht werden. Durch den Export des Sojas als Futtermittel auch in die Bundesrepublik Deutschland gelange das DDT in die Nahrungsmittelkette bei uns. Die hemmungslose Anwendung lebensgefährlicher Gifte hat in Brasilien mit einer traurigen Regelmäßigkeit Tote und Mißbildungen bei Neugeborenen zur Folge. Im Nordosten Brasiliens forderte der Einsatz des dioxinhaltigen Entlaubungsmittels Tordon 101 des US–Konzerns Dow Chemical Dutzende von Toten, als damit die Trasse für eine Hochspannungsleitung freigesprüht werden sollte. Das Gift enthielt Bestandteile des im Vietnamkrieg verwendeten Entlaubungsmittels „Agent Orange“. Mittlerweile macht sich auch in Brasilien eine wachsende Ökologiebewegung bemerkbar, die gegen falschen Pestizideinsatz, Umweltzerstörung, sinnlose Prestigeobjekte, das Atomkraftwerk in Angra dos Reis und Staumdammprojekte, die Mensch und Umwelt gleichermaßen schädigen, kämpfen. Sie ist jedoch bisher relativ bedeutungslos geblieben, da sie sich nur auf kleine Teile des Bildungsbürgertums stützen kann. Für die arme Mehrheit der Bevölkerung sind Probleme wie Unterernährung, Arbeitslosigkeit und mangelnde Gesundheitsfürsorge im Moment noch wichtiger. Ein intaktes Ökosystem und eine unberührte Pflanzenwelt nützen niemandem, wenn er am Verhungern ist. Ohne eine gesunde Umwelt - und das zeigt Hagemann deutlich - ist aber auch kein menschenwürdiges Leben für die Mehrheit der Bewohner möglich. Stefan Schirm (epd) *Helmut Hagemann, Hohe Schornsteine am Amazonas - Umweltplünderung, Politik der Konzerne und Ökobewegung in Brasilien. Dreisam– Verlag, Freiburg, 1985, 185 Seiten.