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Neuer Aufruf zum Boykott

Wiesbaden (taz) - Hätte Egon Hölder, der Präsident des Statistischen Bundesamtes, das Wochenende zu einem Bummel durch die Wiesbadener Innenstadt genutzt, er hätte dort aus den Mauern des Hessischen Landtages Töne vernehmen können, die ihm als obersten Volkszähler der Nation nicht gut in den Ohren geklungen hätten. Nur ein paar Straßen vom Statistischen Bundesamt entfernt hatten sich am Samstag in den Räumen der Grünen–Landtagsfraktion Leute aus dem gesamten Bundesgebiet versammelt, um zu beratschlagen, wie denn die für Mai 87 geplante Volkszählung erneut zu Fall zu bringen sei. Etwa 70 Vertreter/innen von Volkszählungsboykottinitiativen, Gruppen gegen den Überwachungsstaat, den Grünen Landesverbänden und Ratsfraktionen, des Bundesverbandes der Humanistischen Union und der Jungdemokraten waren zu einem ersten größeren Koordinationstreffen gekommen, an dessen Abschluß die Versicherung stand, nicht verdeckt sondern „mit offenem Visier“ die Volkszählungspläne zu durchkreuzen. „Mit offenem Visier“, das hieß für die Anwesenden, nicht mit dem sogenannten „weichen Boykott“, - dem Verfälschen der Fragebögen oder dem Absenden des Bogens an falsche Adressen - für einen mühselig zu sortierenden Datensalat zu sorgen. Wer sich für welche Art des Widerstandes gegen die Zählung entscheidet, das will man zwar auch in Zukunft niemandem vorschreiben. Aber, darin waren sich die Anwesenden einig, nur der kollektive offene Boykott schafft die Möglichkeit, das gesamte Ausmaß der Ablehnung gegen die Zählung zu ermessen und zu demonstrieren. Bei dem sogenannten weichen Boykott kämen am Ende zwar unbrauchbare Daten heraus, aber die Verantwortlichen des Zensus würden ein solches Versagen nie zugeben und für sich den Erfolg verbuchen, „das Volk“ habe sich ja doch loyal von seinem Staat zählen lassen. Die Androhung eines offenen Boykotts des Zählens und Gezähltwerdens sei auch die einzige Möglichkeit, das inzwischen Milliarden teure Unternehmen im Vorfeld zu verhindern. Mit offenem Boykott ist dabei allerdings kein Bekennermut gegenüber dem Zähler gemeint,sondern die Übersendung der unausgefüllten Fragebögen an örtliche Sammelstellen der Volkszählungsinitiativen. Die Sammelstellen könnten dann die Zahlen öffentlich bekanntgeben, ohne jedoch Namen nennen zu müssen. Was die Chancen angeht, mit solchen Aktivitäten die politisch Verantwortlichen noch vorab zum Umdenken zu bewegen, waren die Teilnehmer des Koordinationstreffens jedoch nicht gerade euphorisch. Man weiß sehr wohl, daß die Volkszählungsbetreiber dazugelernt haben und daß das Bundesverfassungsgerichtsurteil und einige neu eingebauten Datenschutzschranken das Mißtrauen vieler Bürger abgebaut haben, obwohl die Gefahren der Zählung noch die gleichen sind wie 1983. Daran wird für das Gros der Bevölkerung auch die Tatsache nichts ändern, daß der Widerstand gegen jegliche staatliche Datensammelei nach der Verabschiedung der Anti–Terrorgesetze noch notwendiger wäre und gerade bei diesem Gesetzespaket anhand der Verkehrskartei ZEVIS vorgeführt wurde, wie eine eigentlich ganz harmlose Datensammlung durch ein einfaches Gesetz zum Überwachungsinstrument umgemünzt werden kann. Nicht im Miß sondern im Ge– brauch der Volkszählungsdaten z.B. über Bevölkerungsstrukturen, Ausländer– oder Arbeitslosenanteile bestimmter Stadtteile, liege die eigentliche Gefahr, meinten die Vertreter der Boykottinitiativen. Eine der größten Gefahren der Zählung liegt in dem Ziel selber, das die Statistiker vorgeben zu verfolgen: Der staatlichen Planung mit scheinbar objektiven Zahlen. Diese Art der staatlichen Planung ist jedoch gegen die gerichtet, von denen jetzt Antwort verlangt wird. Das läßt sich nicht nur anhand von zahllosen Fehlplanungen in jeder Stadt nachweisen, die trotz oder sogar aufgrund neuer Statistiken zustande gekommen sind. Wie man aber im einzelnen bewirken will, daß am 25. Mai 1987 nicht nur 10 oder 40 Prozent der Bevölkerung schweigen, dazu gab es am Wochenende wenig konkrete Ideen. Denn wie so häufig bei solchen Treffen wurde stundenlang ausschweifend hin und her und oft auch im Kreis diskutiert, und als es schließlich um Konkretes gehen sollte, war es so spät, daß es nur noch hieß: Ende der Veranstaltung.

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