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Wie die Sache mit Marx einfach zu Ende ging

■ Ganz so einfach ist das dann doch nicht, wenn elf Jahre Arbeit am „Kapital“ mit der letzten Seite unwiderruflich enden Drei Aufrechte erinnern sich an vergangene Mitstreiter / Ein wenig Erleichterung und Melancholie: „Es hat sich gelohnt“

Aus Hamburg Niklaus Hablützel

Elf lange Jahre trafen sie sich in der Hamburger Universität. Regelmäßig. Drei Studenten, heute zwischen 30 und 40 Jahren alt, gereift und „verdächtig“, wie sie damals gesagt hätten, als sie erstmals einen Hörsaal betraten. Die „klassische Philologie“ war ihr Fach. Aus Neigung vielleicht, doch darauf kam es damals nicht so sehr an. Es gab nur eine wichtige Wissenschaft: den Marxismus. Sie beschlossen wie so viele andere auch, das „Kapital“ zu lesen. Und zwar vom Anfang bis zum Ende. Sie haben es geschafft. Vor nicht einmal einer Woche trafen sie sich zu ihrer letzten Sitzung. Elf Jahre lasen sie, dachten nach, lasen und unterstrichen wieder und immer wieder. Die Warenform entstand im Geiste, der Wert, die Produktionsverhältnisse. Sie wollten alles verstehen. Vor vier Jahren kam der Streit um den Anarchismus auf. Erst? Ob Proudhon, der französische Verkünder einer neuen „Un“–Ordnung, nicht doch recht hatte? Sie lasen weiter, bissen sich an neuen Sätzen fest, um schließlich doch zu verstehen. Ja, auch das. „Es war wie eine Zwangsneurose“, lacht einer. Sie treffen sich zum letzten Mal um 16 Uhr im Institut - genauer „cum tempore“: eine Viertelstunde danach. Einer ist arbeitslos geblieben, zwei wurden Lehrer ihres Faches. Wie immer in all den Jahren senkt sich in dieser Vorweihnachtszeit schon die Nacht auf den Campus herab, als das blaue Buch aufgeschlagen wird. „Jahreszeitlich bedingte Pausen gab es schon“, gesteht einer und denkt an elf lange Semesterferien. Welch ein Gefühl ist es, noch einmal unter der Neonlampe im Assistentenzimmer vereint zu blättern! Band drei vom „Kapital“, die Nummer 25 der blauen Marx–Engels–Werke aus dem Ost–Berliner Dietz–Verlag, wird aufgeschlagen. Ganz weit hinten, so daß das Buch im kräftigem Pappeinband nicht richtig auf dem Tisch liegen will. „Die Klassen“ heißt das letzte Kapitel. Auch das wissen sie schon seit Jahren, haben hinten nachgeschaut wie alle, die mal die drei Bücher in die Hand nahmen, Bücher, die die Welt anders interpretieren. Diese wahren Leser des Karl Marx haben nie gepfuscht, sie gingen bis zu diesem Ende - und nun das? Keine Klassen, nur leere Seiten, ist das der Lohn? Die Runde vermutet historische Gründe. Sie entschuldigen viel, außerdem hat sich die Überzeugung gebildet, das letzte Kapitel könnte auch nicht wirklich weiterhelfen, wäre es geschrieben worden. „Daß sich das also so di rekt in Politik umsetzen läßt, das glaube ich nicht, das hatten wir auch nicht gedacht.“ Erleichtert nicken die Köpfe, die soviel gelernt haben. Jeder Schluß ist willkommen, wenn es nur einer ist. Auch Marx wurde nicht fertig, das Gewissen schweigt, keiner der drei wird jemals wieder die Pflicht fühlen, das Kapital zu lesen. Sie waren einmal mehr gewesen. Am Anfang stand eine Übung für Anfänger: „Die Antike im Lichte des historischen Materialismus“. Dasselbe gab es auch in der Mathematik, erinnern wir uns, aber Altphilologen wie diese Erlösten hatten von Anfang an etwas vermißt: das Original, die Quelle - das „Kapital“ eben. So entstand ein alle Revolutionsversuche überdauernder Lektüre–Zwang. Immerhin war der Kreis allemal ein soziales Erlebnis. Dennoch sprang einer mitten im zweiten Band ab, ging in die Politik, spotten die anderen, gab sich mit philologisch zweifelhaften Sekundärquellen zufrieden. (Heimlich las er weiter.) Ersatzweise stieß ein lesender Genosse „aus dem Bankfach“ hinzu, just als es um die Ableitung des Zinses ging. „Hilfreich war der schon“, freut man sich heute noch, aber bei der Grundrente stellte der Banker seine Mitarbeit schon wieder ein. Nur Hamburger, muß man wissen, kommen auf die Idee, bei der Marx–Lektüre die Banken anzurufen. Auch diese Anfechtung des Kapitalismus ging vorüber. Marx, und er allein, war wieder bei seinen Lesern. Die vertrauten fortan ihrer eigenen, der altphilologischen Kraft. Sie bewältigt Jahrhunderte. Daß die letzten Sätze, jene Sätze, die elf Jahre Gemeinsamkeit mit Karl Marx beendeten, etwas enttäuschend sind: Altphilologen wissen damit zu leben. „Es hat sich gelohnt“, sagen sie und überziehen ihre letzte Stunde auf dem Campus so viel Abschließendes gibt es festzustellen. Die Sache mit Karl Marx, dem bärtigen Gelehrten auf den Barrikaden, sie konnte so nur von bärtigen Akademikern im Seminar erfunden werden: „Wenn es uns wirklich auf den Nägeln gebrannt hätte, den Kapitalismus zu verstehen, dann hätten wir schon lange aufgehört, das Kapital zu lesen.“ Oh Charly, das war ein Zitat deines letzten Lesers. Niklaus Hablützel

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